Migrationsforscher Bade über Sarrazins Thesen, Pflichtkindergärten und Bildungschancen für alle

«An der Basis der Sozialpyramide qualmt es»

Thilo Sarrazins Thesen spalten die Republik. Seit dessen Buchveröffentlichung steht die Integration von Zuwanderern im Fokus. Über die Folgen der Debatte, die Betroffenheit der Muslime und mehr Bildungsgerechtigkeit spricht der Vorsitzende des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration, Klaus J. Bade.

 (DR)

epd: Im Mai dieses Jahres veröffentlichte der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration sein erstes Jahresgutachten. Mit dem Resümee: Die Integration in Deutschland ist insgesamt gut gelungen. Nach der Veröffentlichung von Thilo Sarrazins Buch beherrscht die Medien wieder das alte Schreckensbild einer gescheiterten Integration. Wie erklären Sie den Widerspruch?

Klaus J. Bade: Unserem Integrationsbarometer liegt eine sehr breite, empirisch gestützte Repräsentativumfrage zugrunde. Das unterscheidet sich gewaltig von allerlei durch PC-Click oder Anrufzählungen gemachten "Umfragen". Außerdem: Erfolgreiche Integration bleibt immer unauffällig. Was man aber sieht, sind desintegrative Ausnahmesituationen. Sie werden bei Sarrazin in seinen Attacken gegen "die Muslime" aber vergrößert wie bei Asterix und Obelix das gallische Dorf unter der Lupe.



epd: Warum sind in der aufgeheizten Debatte kaum Stimmen aus muslimischen Verbänden zu hören?

Bade: Es gab schon eine Reihe von scharfen Protesten. So hat die Türkische Gemeinde in Deutschland sofort reagiert und eine Erklärung abgegeben. Auch verschiedene andere Gruppen haben dazu etwas gesagt.

Aber eine geschlossene Positionierung "der Muslime" in der Bundesrepublik hat es tatsächlich nicht gegeben.



epd: Warum nicht?

Bade: Die Leute sind ja nicht dumm. Wenn sie sich als Muslime geäußert hätten, hätten sie auf diese Weise ja einen Beitrag zur Verifizierung der These von Sarrazin geliefert, dass es "die Muslime" im Integrationsprozess gibt. Die gibt es als solche aber nicht.



epd: Wird diese Zurückhaltung nicht als stillschweigendes Einverständnis interpretiert?

Bade: Nein, ganz sicher nicht. Wir haben ja das Ohr am Puls der Einwanderungsgesellschaft. Uns erreichen auch Briefe und Anrufe.

Große Kreise der muslimischen Zuwandererbevölkerung, die zu 45 Prozent aus Deutschen besteht, sind entsetzt über diesen wirklichkeitsfremden kulturaggressiven Stimmungswechsel. Denn sie wissen, dass es gut vorangeht mit der Integration.



epd: Seit 2007 gibt es den gemeinsamen Nationalen Integrationsplan von Bund und Ländern. Warum gehen die dort aufgeführten Integrationsbemühungen in der aktuellen Debatte unter?

Bade: Es wäre an der Zeit, die klugen Gedanken, die da drin stecken, umsetzbar zu machen, besonders durch eine stärkere Vernetzung zwischen dem Bund und den Ländern, die für Integration zuständig sind, und den Kommunen.



epd: Welche Folgen könnte der von Sarrazin ausgelöste Streit haben?

Bade: Viele Migranten nehmen die Debatten als eine Art Ausgrenzungskampagne wahr. Und bei nicht wenigen erfolgreich Integrierten droht die Gefahr der Abkehr, ganz nach Motto: "Uns reicht es. Wir gehen." Das wäre das Schlimmste, was passieren kann, dass ein Teil der neuen Elite abwandert.



epd: Gravierende Bildungsdefizite gibt es auch bei deutschen Kindern.

Bade: Ja, es droht die Herausbildung einer neuen Unterschicht mit zum Teil über Generationen anhaltenden Integrationsdefiziten in bestimmten Bereichen, besonders in Bildung, Ausbildung und dann auch am Arbeitsmarkt. Das betrifft - ich sage das ausdrücklich - auch deutsche Transferabhängige ohne Migrationshintergrund. An der Basis der Sozialpyramide qualmt es. Es wäre deshalb ein großer Schritt nach vorne, wenn Ganztageskitas ab dem vierten Lebensjahr besucht würden.



epd: Wie kann man das umsetzen?

Bade: Bei Eltern, die ausweislich von Sprach- und Lernstandstests der Kinder nicht imstande sind, ihnen das mitzugeben, was sie brauchen für die Einschulung, muss eine Pflicht zum Kita-Besuch bestehen. Sanktionen können, von schweren Beeinträchtigungen des Kindeswohls abgesehen, nach der derzeitigen Gesetzeslage nur gegenüber Sozialleistungsempfängern durchgesetzt werden.



epd: Was passiert, wenn die Politik nicht handelt?

Bade: Die unzureichende Qualifikation vieler Jugendlicher aus sozial schwachen Milieus blockiert nicht nur deren Erwerbschancen.

Sie begrenzt zusätzlich auch das schon aus demografischen Gründen schrumpfende Arbeitskräfteangebot. Mehr noch: Die Perspektivlosigkeit der "Generation Hartz IV" führt zu einem zunehmend aggressiven Empörungspotential. Die Politik hat diese wachsende soziale Gefahr noch nicht zureichend erkannt. Da hat Sarrazin durchaus Recht.



epd: An Projekten zur Integration in den Arbeitsmarkt oder zur nachträglichen Qualifizierung fehlt es nicht.

Bade: Aber es fehlt an Vernetzung und an speziell auf die Zielgruppe zugeschnittenen und zugleich arbeitsmarktorientierten Initiativen. Schule, Sozialarbeit und Firmen müssen besser zusammenarbeiten. Derzeit haben wir ein System, in dem eine diffuse Vielfalt von Einzelförderungen nebeneinander existiert.



Interview: Dirk Baas