Michael Köhlmeier über die größte erzählerische Leistung der Menschheitsgeschichte

"Die Weihnachtsgeschichte ist Hoffnung pur"

Die Könige der Könige besuchen ein kleines, bettelarmes Kind in einer Scheune. Sie beugen die Knie, weil ein Kind im Stall der König aller Könige ist. Hier werde das Kleinste der Kleinen zum Größten, schwärmt der Autor Michael Köhlmeier.

Michael Köhlmeier / © Peter-Andreas Hassiepen
Michael Köhlmeier / © Peter-Andreas Hassiepen

"In der Galaxie unserer abendländischen Kultur ist die Weihnachtsgeschichte wie ein schwarzes Loch in der Mitte, weil sie eine ungeheure Anziehungskraft hat," sagt Michael Köhlmeier von der Geburtsgeschichte des Christkinds. "So viele Elemente, auch märchenhafte Elemente und auch Widersprüchliches kommen hier zusammen". Der Autor ist ein Märchen- und Legendenexperte, nicht nur weil er selbst Märchen schreibt, - soeben ist ein opulentes Buch mit 151 Köhlmeier-Märchen erschienen -, sondern auch weil er sich viel mit Mythen, mit griechischen Sagen und den grimmschen Märchen beschäftigt hat. "Die theoretische Trennung zwischen Märchen, Mythen, Sagen, Legenden, Anekdoten oder Geschichten sei eine rein akademische Trennung und hat mit der Bedeutung oder Wirkkraft einer Erzählung auf den Leser oder Zuhörer gar nichts zu tun", erklärt der Literaturexperte. "Denn der Zuhörer unterscheidet nur zwischen einer guten und einer schlechten Geschichte".

Eine ständige Vergegenwärtigung

Für den Autor Köhlmeier sind die Weihnachtsgeschichte und die Passionsgeschichte ein Glutkern von ungeheurer Kraft. Um diese beiden Geschichten habe sich eine religiöse Vorstellung kristallisieren können, die schon 2000 Jahre gehalten hat. "Das muss man sich einmal vor Augen halten. Diesen beiden Geschichten ist es über 2000 Jahre gelungen, sie in jedem dieser 2000 Jahre andauernden Augenblicke in die Gegenwart zu rufen". Es sei daher auch ganz folgerichtig, dass Maria und Josef durch die Geschichte immer in zeitgenössischen Kleidern auftreten – in zeitgenössischer Umgebung. Wenn in der Krippe im Kölner Dom eine Kaffeebud aufgebaut werde, dann sei das auch ein Zeichen von Vergegenwärtigung, die die Weihnachtsgeschichte möglich mache, erklärt Köhlmeier. "Die Qualität dieser Geschichte besteht darin, dass wir sie uns durch alle Zeiten aneignen konnten und können". Köhlmeier verweist hier auf alte griechische Mythen, die aus dem Gedächtnis der Menschheit verschwunden seien und zwar nicht deswegen, weil sie schlecht erzählt oder unspannend seien, sondern weil sich die Menschen diese Mythen in anderen Zeiten nicht mehr aneignen konnten.

Das Kleinste wird das Größte

"Die Weihnachts- und Passionsgeschichte sind die größte erzählerische Leistung der Menschheitsgeschichte. Aus zwei Brennpunkten hat man hier ein so großes erzählerisches Gebäude geschaffen", sagt der Schriftsteller Köhlmeier. In der Weihnachtsgeschichte werde erzählt, wie aus dem Kleinsten das Größte werden kann. Hier spiegele sich die Hoffnung, dass in jedem Menschen alles enthalten sei.

Das ist Hoffnung pur

Köhlmeier vergleicht das mit einem Apfelkern. Wenn wir einen Apfel essen, dann spucken wir den Kern aus und vergegenwärtigen uns nicht, dass in diesem Kern der ganze Baum enthalten ist. Genauso sei das mit der Geburt Christi, erklärt Köhlmeier. "Stellvertretend für die ganze Menschheit wird dir hier gesagt: Der Kleinste der Kleinen – auf der Flucht, in einer Scheune, in einem Stall - den besuchen die Könige der Könige, und sie besuchen ihn deswegen, um sich vor ihm zu beugen, weil er der König der Könige der Könige ist. Das ist natürlich Hoffnung pur", betont der Schriftsteller.

Der Kern unserer christlichen Religion

In ein gewaltigeres Bild ließe sich der Begriff Hoffnung nicht kleiden, sagt Köhlmeier. Wobei das mit den Begriffen ja so eine Sache ist, denn von Begriffen können wir uns nicht ernähren, sie haben keine Kalorien. "Das Wort Hoffnung sagt uns gar nichts", stimmt der Autor zu, "das ist ein schönes Wort wie das Wort Wahrheit. Wenn wir diesen Begriff nicht mir einer Geschichte füllen können, ist er gar nichts. Aber wenn wir einen Begriff wie Hoffnung in so eine starke Geschichte füllen können, dann ist er alles". Die Passions- und die Weihnachtsgeschichte seien der narrative Kern unserer christlichen Religion. "Diese beiden Brennpunkte haben eine solche Anziehungskraft und gleichzeitig auch so eine Abstoßung, dass es denen gelungen ist, ein so riesenhaftes Gebäude wie das Christentum 2000 Jahre aufrecht zu erhalten. Das muss man sich vergegenwärtigen", betont Köhlmeier.


Quelle:
DR