Merkel bezeichnet Lage als "bitter, dramatisch und furchtbar"

 (DR)

Diplomaten sowie deutsche und afghanische Mitarbeiter von Hilfsorganisationen versuchen am Flughafen von Kabul einen Flug ins sichere Ausland zu bekommen. Wegen verzweifelter Menschen auf der Rollbahn gerät die Evakuierung ins Stocken.

Mit einer großen Evakuierungsoperation versuchen die USA, Deutschland und andere Länder ihre Staatsbürger aus dem Land zu bringen und besonders gefährdete Afghanen vor den Taliban zu retten. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) versprach am Montag nach einer Unterrichtung der Bundestagsfraktionen in Berlin, alles daran zu setzen, die eigenen Landsleute in Sicherheit zu bringen sowie afghanische Ortskräfte, die für staatliche Entwicklungsorganisationen und Nichtregierungsorganisationen in Deutschland gearbeitet haben.

Die Kanzlerin sagte, hier seien etwa 1.500 Personen kontaktiert worden, knapp 600 hätten sich gemeldet. Nun werde versucht, "alles in unserer Macht Stehende zu tun", um diese Menschen aus dem Land zu bringen. Ein deutscher Militärflieger vom Typ A400M war am Abend im Anflug auf Kabul, konnte aber wegen der angespannten Lage am Flughafen nicht landen. Das Auswärtige Amt ging davon aus, dass sich eine hohe zweistellige Zahl an Deutschen noch im Land aufhält.

Die radikalislamischen Taliban kontrollierten derweil alle Polizei-Checkpoints in der Hauptstadt Kabul. Nur kurze Zeit nach dem Rückzug der internationalen Truppen haben sie Afghanistan nach und nach übernommen. Am Sonntag rückten sie bis nach Kabul vor und stürmten den Präsidentenpalast in Kabul, nachdem Staatschef Aschraf Ghani aus dem Land geflohen war. Nur der militärische Teil des Flughafens von Kabul wurde von internationalen Streitkräften noch für die Evakuierungsoperation abgesichert.

Dort spielten sich dramatische Szenen ab: Tausende Menschen versuchten verzweifelt, einen Platz in einem Flugzeug zu finden, um Afghanistan zu verlassen. Auf Fernsehbildern war zu sehen, wie Hunderte in Panik zwischen stehenden Flugzeugen hin- und herlaufen. US-Soldaten gaben Warnschüsse ab, um zu verhindern, dass Menschen die Landebahn blockieren.

Merkel äußerte sich bestürzt über den rasanten Vormarsch der Aufständischen. "Seit dem Abzug der ausländischen Truppen müssen wir erleben, wie die Taliban in geradezu atemberaubender Geschwindigkeit Provinz für Provinz, Stadt für Stadt wiedererobern und das ganze Land erneut unter ihre Kontrolle gebracht haben." Sie betonte: "Das ist eine überaus bittere Entwicklung. Bitter, dramatisch und furchtbar ist diese Entwicklung natürlich ganz besonders für die Menschen in Afghanistan." Wie zuvor Außenminister Heiko Maas (SPD) räumte Merkel ein, dass sie alle die Entwicklung falsch eingeschätzt und gedacht hätten, länger Zeit zu haben, um Lösungen zu finden.

Nach Angaben des Auswärtigen Amtes wurden bereits in den vergangenen Wochen von 2.500 afghanischen Ortskräften der Bundeswehr und deutschen Polizei rund 1.900 nach Deutschland gebracht. Dieser Kreis der Personen, die ein deutsches Visum bekommen, ist laut Maas zuletzt um die Ortskräfte von Nichtregierungsorganisationen, der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) sowie um Menschenrechtsaktivisten und Frauenrechtlerinnen erweitert worden.

Laut UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) hat sich die humanitäre Lage in Afghanistan rapide verschlechtert: Allein in diesem Jahr hätten Gewalt und die schlechte Sicherheitslage 550.000 Menschen zur Flucht innerhalb des Landes gezwungen - mehr als zwei Drittel von ihnen allein seit Anfang Mai. Die meisten davon seien Frauen und Kinder. Das UNHCR erklärte sich zugleich bereit, "im Einklang mit seinen Aufgaben und den humanitären Grundsätzen der Neutralität, Unparteilichkeit und Unabhängigkeit" in Afghanistan zu bleiben und humanitäre Hilfe zu leisten - mit dem Fokus auf Vertriebene und andere Bedürftige. UN-Generalsekretär António Guterres rief die Taliban auf, Leben zu schützen und sicherzustellen, dass humanitäre Hilfe möglich sei.

Merkel sagte mit Blick auf die erwartete Fluchtbewegung aus Afghanistan, man müsse "schauen, dass sie eine sichere Bleibe in der Umgebung von Afghanistan haben". Man dürfe den Fehler von 2015 nicht wiederholen, der gewesen sei, das UNHCR und das Welternährungsprogramm (WFP) nicht mit ausreichend Geld auszustatten. Sie versprach, ihnen und den Nachbarstaaten Afghanistans diesmal schneller Hilfe anzubieten.