Menschenrechtsexperte der Kirche bewertet das Verfassungsreferendum in der Türkei grundsätzlich positiv

„Entscheidung pro Demokratie“

Als „Entscheidung pro Demokratie“ bewertet der Menschenrechtsexperte des katholischen Hilfswerks "Missio", Otmar Oehring, das türkische Verfassungsreferendum. Allerdings habe Ankara dennoch „einen sehr langen Weg Richtung Europa vor sich“. So bliebe die Frage der Religionsfreiheit weiterhin unbeantwortet.

 (DR)

domradio.de: Ist das Ergebnis eine Überraschung?

Oehring: Nicht wirklich. Bereits in Umfragen vor dem Referendum war von einer Mehrheit dafür die Rede.



domradio.de: Welche Veränderungen bringt das Referendum mit sich?

Oehring: Insbesondere Änderungen im Hinblick auf den Justizapparat: die Wahl der Mitglieder des Verfassungsgerichts werden verändert, Parlament und insbesondere Regierung erhalten hier mehr Vollmachten. Das ist sicher positiv zu sehen - wird aber von den Gegnern des Referendums als negativ gesehen, weil der Regierung unterstellt wird, dass sie ihre eigenen Kader auf die entsprechenden Posten hieven würde. Ein zweiter Punkt ist, dass künftig Straftaten gegen die Staatssicherheit nicht mehr von Militärgerichten verhandelt werden, sondern von zivilen Gerichten. Auch das ist eine ganze wichtige Entwicklung. Ein dritter Punkt: Straftaten von Militärangehörigen werden künftig auch von Zivilgerichten behandelt. Daneben gibt es noch viele andere Entwicklungen und Änderungen, die die Türkei auf einen demokratischeren Weg bringen.



domradio.de: Die Opposition befürchtet einen steigenden Einfluss der Regierungspartei auf die Richter...

Oehring: Das ist eine Frage, die man so nicht beantworten kann. Das Problem ist, dass es einen Kulturkampf zwischen dem alten Regime - Militär und auch Bürokratie - und auf der anderen Seite der islamisch-islamistischen AKP gibt. Jetzt hat sich der Wählerstamm der AKP durchgesetzt. Das kann man positiv sehen, wenn man sagt: Das ist ein weiterer Schritt Richtung Demokratie, ein wichtiger und notwendiger Schritt. Man kann genauso sagen: Damit ist der Einfluss der islamisch-islamistischen AKP gestärkt worden, das Korrektiv Streitkräfte, Militärapparat ist geschwächt worden - und damit kann man nicht genau absehen, wohin die Reise in der Türkei gehen wird.



domradio.de: Sind die Voraussetzungen für einen EU-Beitritt gestiegen?

Oehring: Soweit würde ich noch nicht gehen. Es ist richtig: Wenn man losgelöst von den innenpolitischen Auseinandersetzungen der letzten Monaten und Jahren diese Entscheidung sieht, muss man sagen, es ist ganz klar eine Entscheidung pro Demokratie gegen die Dominanz des Militärs in Gesellschaft und Staat. Aber die Türkei hat trotzdem noch einen sehr langen Weg vor sich in Richtung Europa mit ungewissem Ausgang am Ende, denn es sind viele Fragen in dieser Verfassungsreform gar nicht gestreift worden. Zum Beispiel ist die Frage von Straftaten gegen das Türkentum nach wie vor nicht endgültig geklärt worden. Der ganze Komplex der Religionsfreiheit - ein sehr kritischer Komplex in der Auseinandersetzung zwischen Regierung und Militär - ist nicht geklärt worden. Es wird jetzt notwendig sein, erst mal Ausführungsgesetze zu den einzelnen Verfassungsänderungen zu machen, da wird man schon sehen, wohin die Reise geht. Ein weiterer Schritt, den der Ministerpräsident schon angekündigt hat, ist die Erarbeitung einer ganz neuen Verfassung - mindestens genauso wichtig, wenn nicht noch wichtiger. Erst wenn diese Verfassung vorliegt und dann auch die Ausführungsgesetze zu dieser neuen noch zu erarbeitenden Verfassung, wird man sagen können, wohin die Türkei sich in Zukunft tatsächlich bewegt.--


Das Gespräch führte Tobias Fricke.