"Lux in tenebris" begeistert im Speyerer Dom

"Im anderen nicht mehr Bruder oder Schwester erkennen"

Wie der Mensch der Finsternis verfällt und sich doch gleichzeitig nach Licht sehnt, das beschreibt eindrucksvoll das "Friedensoratorium" von Helge Burggrabe, das als Appell und Mahnung in diesen Tagen erschreckend aktuell ist.

Autor/in:
Beatrice Tomasetti
Markus Melchiori krönt die Internationalen Musiktage am Dom zu Speyer mit "Lux in tenebris". / © Beatrice Tomasetti (DR)
Markus Melchiori krönt die Internationalen Musiktage am Dom zu Speyer mit "Lux in tenebris". / © Beatrice Tomasetti ( DR )

Manchmal kann allein schon die Gleichzeitigkeit von Ereignissen eine unbeabsichtigte Dramaturgie haben und auf eindringliche Weise veranschaulichen, wie dicht Helle und Dunkelheit mitunter beieinander liegen: Während in Rom bei der Weltsynode gerade Bischöfe und Laien aus allen Erdteilen um Gemeinsamkeiten und damit auch um die Zukunft der Kirche ringen, auf Dialog, Verständigung, Aufbruch und Erneuerung setzen, platzt in dieses gleichermaßen aufrichtige wie notwendige Bemühen die Nachricht eines weiteren brutalen Krieges, der zeigt, was der Mensch dem Menschen antun kann: Die Terrororganisation Hamas beschießt Israel und riskiert zahllose Tote.

Die Partitur von "Lux in tenebris" hat Helge Burggrabe 2015 fertig gestellt. / © Beatrice Tomasetti (DR)
Die Partitur von "Lux in tenebris" hat Helge Burggrabe 2015 fertig gestellt. / © Beatrice Tomasetti ( DR )

Immer wieder der Brudermord

Immer wieder in der Menschheitsgeschichte – als gäbe es keinen anderen (Aus)Weg – wiederholt sich der Brudermord von Kain und Abel aus dem Alten Testament: die stetig wiederkehrende Unfähigkeit, aus Verblendung, Hass und Gewalt in der Vergangenheit Lehren für das Hier und Jetzt zu ziehen und einen tragfähigen Gegenentwurf zu blindem Zerstörungswerk wirksam werden zu lassen.

Im Kern ist es genau diese Geschichte, die der Komponist Helge Burggrabe in ihrer ganzen Ambivalenz mit seinem Werk „Lux in tenebris“ erzählt: indem er einerseits den Fall des Menschen in die Dunkelheit, aber eben auch seine verzweifelte Suche nach dem Licht eindringlich darstellt. Dabei macht seine Musik, die er in 25 einzelne Rezitative, Arien und Chorsätze gliedert, die Stufen von Entfremdung und Spaltung bis hin zu kriegerischen Auseinandersetzungen erlebbar und entwickelt mit Zitaten aus dem Neuen Testaments, darin verflochten Lyrik von Rose Ausländer, Rainer Maria Rilke, Hilde Domin sowie neue Texte der Journalistin und Autorin Angela Krumpen, die Vision eines anderen Miteinanders.

Zur Versinnbildlichung des Blutvergießens im Krieg ist der Altarraum in blutrotes Licht getaucht. / © Beatrice Tomasetti (DR)
Zur Versinnbildlichung des Blutvergießens im Krieg ist der Altarraum in blutrotes Licht getaucht. / © Beatrice Tomasetti ( DR )

Konzert im Kölner Dom musste 2020 abgesagt werden

Ursprünglich als Auftragswerk zur 1200-Jahrfeier des Bistums Hildesheim geschrieben und im dortigen Dom 2015 uraufgeführt, sollte das Oratorium 2020 zum 75. Jahrestag des Kriegsendes am 8. Mai 1945 auch im Kölner Dom stattfinden, musste dann aber wegen der Corona-Pandemie abgesagt werden und wurde bis auf den heutigen Tag nicht nachgeholt. Leider. Dabei gehört eine solche Komposition vordringlich in genau solche Räume, die in einer nach dem Krieg neu aufgebauten Stadt trotz wiederhergestellter Fassaden und eines den Bomben trotzenden Domes auch noch Jahrzehnte später Mahnmale einer zutiefst verstörenden Gewaltmaschinerie geblieben sind und geradezu genuin die architektonische, aber auch spirituelle Hintergrundfolie für eine solche künstlerisch anspruchsvolle und dennoch allgemein zugängliche Darstellungsform bilden.

Ein derart passend gewählter Aufführungsort war am Wochenende auch der Speyerer Dom, in dem 180 Mitwirkende aus allen Chören der Speyerer Dommusik, Orchestermusiker und ein herausragendes Quartett an Gesangssolisten – Hanna Zumsande, Sopran, Anne Bierwirth, Alt, Georg Poplutz, Tenor, Konstantin Paganetti, Bass – sowie als Sprecherin Schauspielerin Julia Jentsch auftraten und diesem Werk unter der Leitung von Domkapellmeister Markus Melchiori als krönendem Abschluss der dortigen „Internationalen Musiktage“ Leben einhauchten. Zweifelsohne mit vielen berührenden Gänsehautmomenten. Um es vorwegzunehmen: Eine minutenlange Stille nach dem Schlusston des Tenors und damit der von ihm verkörperten Stimme Gottes mit der Zusage „Ich werde immer da sein. In allen Welten, zu allen Zeiten. Ich bin“ muss man erst einmal hinbekommen und kann selbstredend in einem bis auf den letzten Platz gefüllten Dom nicht erzwungen werden.

Musik als Impuls zur Umkehr

Vielleicht war sogar dieses feierliche Aushalten eines kollektiven Schweigens nach letzten gesungenen Worten – man hätte in dieser imposanten Kirche eine Stecknadel fallen hören können – das untrügliche Indiz dafür war, wie existenziell ergreifend diese Musik ist, die einen in tiefste Sphären des Menschseins entführt und am Ende doch ein einziger Impuls zur Umkehr sein will: es besser zu machen als vorangegangene Generationen, sich aus dem zyklisch wiederkehrenden Kreislauf von Gut und Böse, Liebe und Hass, hell und dunkel zu befreien – dem Licht entgegen zu streben. Anders gesagt, Stille nach einer derart intensiv berührenden Musiksprache schafft den Raum für Heiliges.

Nicht umsonst hat Burggrabe seiner Komposition den Beinamen „Friedensoratorium“ gegeben. Nie wieder Krieg, ansingen gegen den Krieg, Stellung beziehen gegen aufkommende Feindschaften im Kleinen wie im Großen, selbst einen Beitrag zum Gelingen von Gemeinschaft leisten, zivilgesellschaftliches Engagement zeigen, vor allem den Zusammenhalt fördern – das ist die Botschaft, zu der er aufruft, die er mit seiner Kunst vermitteln will und die ihm bei allen seinen Projekten zur Triebfeder geworden ist.

Wort von Hilde Domin ist Herzstück des Oratoriums

Wie immer bei den Oratorien von Burggrabe ist das Wort ganz wesentlich Ausgangspunkt, und so helfen diese großartigen Texte eines stimmig zusammengestellten Librettos, denen Burggrabe mit seiner Vertonung zusätzliche Sogwirkung verleiht, bei der Sensibilisierung für das größte Menschheitsthema schlechthin: Frieden. Da ist beispielsweise dieses unglaubliche Wort von Hilde Domin, das sich als unmissverständlicher Appell an jeden einzelnen richtet und nahezu das Herzstück dieses Oratoriums bildet: Abel, steh auf, damit es anders anfängt zwischen uns allen.

Die Lyrikerin wagt das Gedankenspiel eines „Was wäre wenn…“. Sie will für möglich halten, dass alles hätte anders kommen können in dieser Welt, wenn nur am Anfang nicht dieser Brudermord gestanden hätte, stattdessen der eine Bruder dem anderen zum Hüter geworden wäre, noch einmal der Beginn von allem umkehrbar gemacht werden könnte, die Zeichen auf Neuanfang stünden. Wörtlich heißt es in Domins Gedicht: Wenn du nicht aufstehst, Abel, wie soll die Antwort, die einzig wichtige Antwort sich je verändern. Wir können alle Kirchen schließen und alle Gesetzbücher abschaffen in allen Sprachen der Erde, wenn du nur aufstehst und es rückgängig machst die erste falsche Antwort auf die einzige Frage, auf die es ankommt…

Info-Kasten

Die Aufführung in Speyer wurde unter anderem unterstützt von Musica innova e.V., einem Verein, der interdisziplinäre innovative und spirituelle Musik- und Kulturprojekte, wie sie der Komponist und Künstler Helge Burggarbe initiiert und realisiert, fördert. Diese greifen Zeitfragen auf, haben das Potenzial, Menschen zu berühren, sie miteinander ins Gespräch zu bringen und Wirkungen in die Zivilgesellschaft hinein zu entfalten.

Gemeinsamer Auftritt aller Speyerer Domchöre bei "Lux in tenebris". / © Beatrice Tomasetti (DR)
Gemeinsamer Auftritt aller Speyerer Domchöre bei "Lux in tenebris". / © Beatrice Tomasetti ( DR )

Licht und Finsternis wechseln sich ab

Helge Burggarbe dekliniert die von ihm gewählte Licht-Finsternis-Metaphorik konsequent durch. Dem paradiesischen Zustand „Lumen de lumine“ – Licht vom Lichte – folgt die Obscuratio, die Verfinsterung, „wenn die Nacht das Licht verschlingt, die Erleuchtung einschläft“, wie Rose Ausländer das nennt, sich Not und Verzweiflung Bahn brechen, Kain wie auch der Soldat im Weltkrieg den Bruder nicht erkennt. So beschreibt Angela Krumpen auf ihre Weise den von Menschenhand gemachten Irrsinn. Dann ein erstes Aufleuchten von Hoffnung, auf dem rechten Weg zu sein: Lux in tenebris – Licht in der Finsternis. Sprecherin Julia Jentsch formuliert: „Wenn aus einer Haltung der Mit-Menschlichkeit tatkräftig-kreatives Engagement für eine gerechtere Welt wächst, ist vieles möglich… Miteinander neue lebensfördernde Wege zu gehen, überwindet Angst und Ohnmacht und gestaltet ein menschlicheres Zusammenleben im Einklang mit der Schöpfung.“

Und wieder droht Verfinsterung, „die größtmögliche Gottesferne, Umnachtung der Seele“ sagt Burggrabe dazu. Denn der Mensch hat die Wahl, kann sich entscheiden zwischen Licht und Dunkelheit. „Doch viele lieben die Finsternis mehr als das Licht“, heißt es wiederum ernüchternd im Libretto. „Die Macht im Irrlicht fürchtet die Liebe, fürchtet das Licht.“ Schließlich im letzten Kapitel: Das selbstverantwortete Drama des Menschen kann gut ausgehen. Denn Gott schafft ihn nach seinem Bild und weist ihm aus aller Dunkelheit den Weg ins Licht zu einem neuen Miteinander. Und so endet das Werk mit der Vision eines „himmlischen Jerusalem“ mitten unter den Menschen, einer Vision der Gottesgegenwart.

Helge Burggrabe

"Jeder sollte sich fragen: Säe ich mit meinen Gedanken, Worten und Taten Zwietracht oder stifte ich Frieden? Also: Was kann ich dafür tun, dass es zur letzten Stufe dieser Eskalationsspirale gar nicht erst kommt?"

Für Burggrabe werden Kain und Abel in seinem Oratorium zum Kernthema. „Der Brudermord ist gewissermaßen die Urszene für alle kriegerischen Konflikte unserer Zeit, die nur existieren können, solange einer im anderen nicht den Bruder oder die Schwester erkennt“, stellt er fest. Letztlich münde alles in der Frage, inwieweit der Einzelne fähig sei, den Mitmenschen als Kind Gottes zu sehen und im Frieden mit ihm zu leben. Immerhin stecke potenziell in jedem von uns etwas von Kain und Abel. „Das heißt, jeder kann Opfer und Täter sein. Und jeder sollte sich fragen: Säe ich mit meinen Gedanken, Worten und Taten Zwietracht oder stifte ich Frieden? Also: Was kann ich dafür tun, dass es zur letzten Stufe dieser Eskalationsspirale gar nicht erst kommt? Schließlich könnten wir doch auch anders und uns auf unsere Geschwisterlichkeit und die Verantwortung, die der eine für den anderen hat, besinnen.“

„Lux in tenebris“ ist eine universelle Erzählung von Krieg und Frieden und vor dem aktuellen Hintergrund zahlreicher Kriegshandlungen mit erschütternden Bildern aus dem Nahen Osten, der Ukraine, Afghanistan und vielen anderen Teilen der Welt von zeitloser Relevanz. Vielleicht kann man „Lux in tenebris“ sogar als politisches Manifest verstehen, denn dieses zutiefst berührende Musikstück bezieht Position und mahnt zum Frieden; eine Komposition, die als Gesamtkunstwerk mit faszinierenden Illuminationsakzenten von Lichtkünstler Michael Suhr dazu taugt, die Großen dieser Welt an ihren ureigenen Auftrag zu erinnern, nicht nur Verantwortungs-, sondern auch Lichtträger in dunkleren Zeiten zu sein und mit leuchtenden Fackeln voranzugehen.

Quelle:
DR