Eine verspätete Kul-Tour de France 2020

Links und rechts des Peloton: alles voller Kulturerbe

Am Samstag startet die 107. Tour de France. Abseits des Wettstreits ist das berühmteste Radrennen der Welt auch eine Art Visitenkarte unseres Nachbarlandes. Eine kulturelle Erkundung entlang der Strecke.

Autor/in:
Alexander Brüggemann
Die Tour de France / © Christophe Ena (dpa)
Die Tour de France / © Christophe Ena ( dpa )

Radrundfahrten mit fast zwei Monaten Verspätung? Corona macht's 2020 möglich. 196 gemeldete Starter mit rund 500 Begleitern brechen am Samstag (29. August) an der Cote d'Azur zur diesjährigen, der 107., Tour de France auf. Sie rasen an jeder Menge Kulturerbe vorbei, an vielen der schönsten Dörfer und Städte Frankreichs.

Nach dem Eingesperrt-Sein im Corona-Frühjahr kann man die berühmteste Rundfahrt der Welt, ausgetragen seit 1903, aber auch ganz anders wahrnehmen: als eine Einladung, kleine und große Sehenswürdigkeiten des Landes kennenzulernen; als Streifzug durch Geschichte, Kultur und Kulinarik - kurzum: als eine Visitenkarte der "Grande Nation".

Die meisten Etappen im Süden des Landes

3.470 Kilometer in rund drei Wochen haben die Fahrer in 21 Etappen zu bewältigen; die längste Tagesetappe geht über 218 Kilometer. Bis zu zwölf Millionen Zuschauer stehen in normalen Jahren an der Strecke. Wie viele dürfen es bei der Corona-Tour 2020 sein?

Bis auf die letzten beiden Etappen bleibt die 107. Tour ausschließlich im Süden des Landes. Wie jedes Jahr führt sie auch durchs Hochgebirge; diesmal durch die Alpen, das Zentralmassiv, die Pyrenäen, das Jura und die Vogesen.

Vorbei am Jakobsweg

Am Startort Nizza an der Cote d'Azur braucht es keine Hochkultur - nur Sommer, Sonnenbrille, Eisdielen, Trödelmärkte, die Promenade des Anglais und das legendäre Grand Hotel Negresco. Lohnenswert: ein Abstecher in die russisch-orthodoxe Kathedrale aus der Zarenzeit, Reminiszenz an die alte Seebäder-Herrlichkeit des frühen 20. Jahrhunderts.

Mit der Nase knapp vorbei an Grasse, dem Dorf der Düfte, geht es über das abgelegene Benediktinerpriorat Ganagobie steil oberhalb der Durance nach Sisteron mit seiner Zitadelle. Von Gap in den provencalischen Seealpen führt die Strecke entlang dem Naturpark der Ardeche ins ländliche Languedoc und vorbei an der Kleinstadt Castres, einst eine wichtige Station auf dem Jakobsweg.

Das "Grüne Venedig"

Pau, die "Reformationsstadt Europas" 2017 im Südwesten Okzitaniens, ist der Geburtsort König Heinrichs IV. von Navarra, dem 1593 "Paris eine Messe wert" war. In der Region Bearn weiß man gut zu leben, wie nicht nur die nach ihr benannte Sauce Bearnaise aus Butter, Kräutern und Schalotten belegt.

Über die Hafen- und Festungsstadt La Rochelle und die Ile de Re, wo die Trauben für einen guten Cognac angebaut werden, rast das Feld tags darauf durch den Naturpark des Marais Poitevin. Die Trockenlegung und Bewirtschaftung dieser einstigen Sümpfe, heute zweitgrößtes Feuchtgebiet Frankreichs und "Grünes Venedig" genannt, machte im 12. Jahrhundert die Mönche von Maillezais und Nieul reich. Der Schriftsteller Francois Rabelais, in den 1520er Jahren Gast der Abtei Maillezais, machte für die Entstehung des Kanalsystems allerdings ein dringendes Bedürfnis seines Romanhelden verantwortlich, des Riesen Gargantua.

Kathedralen auf der Strecke

Etappenziel dieses Tages ist Poitiers, eine Hauptstadt der Romanik. 24 Kirchen und 30 Klöster hat es hier, darunter mit der Taufkapelle Saint-Jean der älteste Kirchbau Frankreichs. Immer wiederkehrende Motive der Portale sind der Kampf des Menschen gegen das Böse in sich selbst, aber auch die reiche Mythologie des Poitou. Fast allgegenwärtig: die fischschwänzige Melusine. Der Legende nach flog sie nachts über die Region; und überall, wo sie Steine fallen ließ, entstanden die mächtigsten Burgen und schönsten Städte.

Vorbei am Vulkangipfel des Puy-de-Dome mit seinen 1.465 Metern geht es nach Clermont-Ferrand, der einstigen Hauptstadt der Auvergne, mit ihrer gotischen Kathedrale aus schwarzem Lavastein. Nächstes Etappenziel ist Lyon, die drittgrößte Stadt des Landes, Heimat des Beaujolais und ein Herzstück französischer Küche. Das historische Zentrum am Zusammenfluss von Rhone und Saone gehört mit seinen römischen Überresten und seinen vielen Renaissancebauten zum Weltkulturerbe der Unesco.

Ein Besuch bei der Geburtstätte des Kartäuserordens

Den Reichtum seiner Geschichte demonstriert das "Fresque des Lyonnais" am Saone-Ufer. 24 berühmte Lyoner sind hier an zwei Hauswände gemalt: der römische Kaiser Claudius, der Kirchenvater Irenäus, der Webstuhlerfinder Jacquard, der Physiker Ampere, die Kino-Erfinder-Brüder Lumiere, der Dichter Saint-Exupery, der "Vater der Obdachlosen" Abbe Pierre - und natürlich der 2018 gestorbene Starkoch Paul Bocuse.

Am 16. September geht es in die Gegend von Grenoble am Alpenrand, wo es gleich zwei der zentralen Stätten des Kartäuserordens zu besichtigen gibt: unten im Tal, in Voiron, die Destillerie des berühmten Kräuterlikörs "Chartreuse"; dann, 17 Kilometer und etliche Höhenmeter später, Saint-Pierre-de-Chartreuse, wo der heilige Bruno 1084 die erste Kartause gründete, bis heute das wichtigste der 17 verbliebenen Kartäuserklöster weltweit (plus 4 Frauen-Kartausen).

Das Ende der Fahrt

Der Streckenverlauf vorbei an Bourg-en-Bresse, der Heimat des Bresse-Huhns, zeigt an, wohin jede Tour de France führt: zu den Fleischtöpfen von Paris. Frankreichs uneingeschränkte Hauptstadt ist natürlich auch kulturell eine der Top-Adressen weltweit.

Hier endet die Rundfahrt auf den Champs-Elysees. Für den Sieger gibt es Lorbeer, Küsschen, Schampus, das Gelbe Trikot - und ein Döschen für die Dopingprobe.

 

Quelle:
KNA