Alle Jahre wieder: Die Erhebung der Gebeine des heiligen Liborius bildet den Auftakt für das neuntägige Liborifest in Paderborn. Es wird anlässlich des Gedenktages des Heiligen am 23. Juli an den sich daran anschließenden Tagen gefeiert. Das Kirchen- und Volksfest Libori ist über die Jahrhunderte zu einem der größten Jahrmärkte in Deutschland geworden und weit über die Bischofsstadt an der Pader hinaus bekannt. Wenn auch heute wieder der berühmte Libori-Tusch bei der Erhebung der Liborius-Reliquien erklingt, hüpft wohl jedem Paderborner das Herz in der Brust. Der Tusch kündigt den im Paderborner Dom anwesenden Gläubigen die Gegenwart des Heiligen an, dessen Gebeine im goldenen Libori-Schrein aus der Krypta in den Hochchor des Doms getragen und dort zur Verehrung ausgesetzt werden.
Dieser Umgang mit Reliquien ist heute in weiten Teilen der Kirche in Deutschland zu einer Seltenheit geworden – doch im Mittelalter war für viele Zeitgenossen christlicher Glaube ohne die Verehrung der Gebeine von Heiligen nicht denkbar. Die Wurzeln dieser Praxis reichen bis in die Antike zurück. Schon im Römischen Reich war der Totenkult sehr wichtig und an bestimmten Tagen traf sich die Familie, um ihrer Verstorbenen zu gedenken. Auch die ersten Christen besuchten die Gräber ihrer hingerichteten Glaubensgeschwister, von denen sie annahmen, dass sie als Märtyrer direkt in die göttliche Herrlichkeit aufgenommen worden waren. Diese Verehrung dehnte sich auch auf Jungfrauen, Bekenner und andere Heilige aus.
Mit Erlaubnis des Ortsbischofs
Es wurde üblich, über den Gräbern der Heiligen die Eucharistie zu feiern – und dort, wo es keine Heiligengräber gab, Überreste von Heiligen in die Altäre einzulassen. In diesem Zusammenhang entwickelte sich der Brauch der Translationen von Reliquien, also ihrer feierlichen Übertragung von einem Ort an einen anderen. Die erste solche Translatio war die Übertragung der Gebeine des Märtyrerbischofs Babylas während der Regentschaft von Kaiser Caesar Gallus zwischen 351 und 354 nach Daphne, einem Vorort von Antiochia in der heutigen Türkei.
Reliquientranslationen geschahen in der Regel mit Erlaubnis des Ortsbischofs und zeigten in einer Zeit, in der es noch keine Heiligsprechungen durch die Päpste gab, die Verehrungswürdigkeit eines Verstorbenen an. Kanonisationen durch den Heiligen Stuhl wurden erst im 10. Jahrhundert verpflichtend eingeführt. Bei einer Translatio ergab sich die Möglichkeit, Gebeine von Heiligen zu entnehmen, um sie anderen Kirchengebäuden zukommen zu lassen.
Reliquien zeigen und Pilger anziehen
Bis ins Frühmittelalter bildete sich eine besondere liturgische Form der Reliquientranslation heraus, die stets den gleichen Ablauf hatte: Zu Beginn stand die Auffindung der Reliquie (inventio). Anschließend folgte die Erhebung (elevatio) und darauf die Überführung (translatio). Der Empfang (receptio) und die Niederlegung (deposito) bildeten den Abschluss. Mit der literarischen Gattung der Translationsberichte wurde die oft von Wundern begleitete Übertragung von Heiligenreliquien beschrieben. Zudem etablierten sich die Jahrestage der Translationen als eigene liturgische Feste – teilweise sogar mit größerer Bedeutung als der eigentliche Gedenktag des jeweiligen Heiligen.
Ein Beispiel für das liturgische Gedenken der Translatio ist in Köln der 23. Juli, an dem in der Domstadt an die Übertragung der Gebeine der Heiligen Drei Könige erinnert wird. Es war der Tag, an dem im Jahr 1164 die aus Mailand als Kriegsbeute geraubten Dreikönigsreliquien in Köln eintrafen. Die Translationsgedenktage waren eine beliebte Möglichkeit, die Reliquien zu zeigen und dadurch Pilger anzuziehen. Die sterblichen Überreste von Heiligen besaßen im Mittelalter nicht nur eine religiöse Bedeutung, sie waren auch wirtschaftlich und für das Prestige eines Ortes wichtig. Die Reliquien konnten zudem in Prozessionen bewegt werden und waren keineswegs an eine Stätte gebunden, weshalb im Hochmittelalter vermehrt die "Tracht" von Heiligen-Gebeinen üblich wurde.
Identitätsstiftende Elemente
Die Gründe für Reliquientranslationen waren vielfältig: Sie konnten dazu dienen, vorchristliche Bräuche zu verdrängen und ganze Landstriche mit den Gebeinen von Heiligen zu versorgen, um sie zu christianisieren. Ein Beispiel dafür ist etwa die angelsächsische Mission, aus deren intensiven Kontakten zu Rom zahlreiche Reliquienschenkungen resultierten. Weiter konnten Reliquien durch Translationen vor Raub geschützt oder auch wechselseitige Beziehungen gestärkt werden. Das war etwa der Fall bei den Liborius-Reliquien, die 836 als Teil eines Gabentauschs zwischen Paderborn und Le Mans an den Bischofssitz an der Pader kamen.
Auch wenn Heiligenverehrung und Reliquienkult im Zuge von Reformation und Aufklärung stark an Bedeutung eingebüßt haben, so sind sie doch identitätsstiftende Elemente des katholischen Glaubens geblieben – und zeigen sich etwa beim Liborifest. Dabei wird selbstverständlich auf die Translationen von Reliquien Bezug genommen, wie sie im Mittelalter üblich waren. Mit der Beisetzung der Reliquien des heiligen Liborius in der Domkrypta – die ebenso in dieser Traditionslinie steht – endet am Dienstag der kirchliche Teil des Paderborner Volksfestes.
Wer jetzt im Sommer keine Zeit für das Liborifest hat, kann übrigens im Herbst zum sogenannten "Klein-Libori" nach Paderborn fahren. Diese "kleine Schwester" des großen Volksfestes findet immer um den 25. Oktober statt und wird ganz ähnlich begangen. Anlass für die Feierlichkeiten ist die Erinnerung an die Rückkehr der im Dreißigjährigen Krieg geraubten Libori-Reliquien. Während des Sonntags des Herbst-Libori werden die Gebeine des Heiligen ebenfalls erhoben, zur Verehrung durch die Gläubigen ausgestellt und am gleichen Tag wieder in der Krypta des Doms niedergelegt. Dabei fehlt natürlich der Libori-Tusch nicht, der zur Ehre des Heiligen dargeboten wird.