Kritiker fordern Abzug aus Afghanistan oder neue Konzeption des Einsatzes

30 tote deutsche Soldaten in sechs Jahren

Nach dem Tod von zwei weiteren deutschen Soldaten in Afghanistan mehren sich die Stimmen, die eine Kursänderung des Einsatzes fordern. Der Vorsitzende der Aachener Friedenspreisinitiative, Otmar Steinbicker, hat sich für einen raschen Abzug der Bundeswehr ausgesprochen. Thorsten Hinz von Caritas International rechnet im domradio-Interview mit weiteren Opfern und fordert eine Stärkung der zivilen Maßnahmen.

 (DR)

Thorsten Hinz sieht die aktuelle Situation in Afghanistan kritisch, die Sicherheitslage habe sich enorm verschlechtert in den letzten Monaten. Auch die vom Bundestag beschlossenen weiteren tausend Soldaten könnten keine wirklich gravierende Verbesserung bringen, sagte Hinz dem domradio. Umso dringender sei, „dass andere Wege gefunden werden müssen, um diesen Bürgerkrieg im Land zu befrieden." Der zivile Aufbau müsse verstärkt und mit den verschiedenen Kriegsparteien gesprochen werden, um tatsächlich Frieden herbeiführen zu können.

Otmar Steinbicker erklärt die bisherige Afghanistan-Konzeption für gescheitert. Nun solle die Bundesregierung «eine Denkpause einlegen, anstatt weitere deutsche Soldatinnen und Soldaten in einen aussichtslosen Krieg zu schicken», erklärte er am Montag in Aachen. Stattdessen müsse die afghanische Zivilgesellschaft bei der Suche nach einer Verhandlungslösung unterstützt werden. Eine weitere Eskalation der Gewalt dagegen nutze den Taliban.

Steinbicker, der auch einer der Sprecher der bundesweiten Kooperation für den Frieden ist, fordere die Bundesregierung auf, die sieben Jahre Militäreinsatz am Hindukusch zu evaluieren. Ausländische Militärs und Diplomaten hätten bereits erklärt, dass der Krieg in Afghanistan militärisch nicht zu gewinnen sei.

Der Bundestag hatte erst am Donnerstag den Afghanistaneinsatz um 14 Monate verlängert und die Obergrenze des Bundeswehrkontingents von 3.500 auf 4.500 erhöht. Damit stellt Deutschland nach den USA und Großbritannien den drittgrößten Anteil der fast 53.000 Mann starken ISAF-Schutztruppe.

Kirche: Bestürzung über Anschlag
Militärgeneralvikar Prälat Walter Wakenhut hat sich tief bestürzt über das Selbstmordattentat gegen Bundeswehrsoldaten im afghanischen Kundus geäußert. Die deutschen Soldaten und Soldatinnen leisteten in Afghanistan einen Friedensdienst und setzten dafür ihr Leben ein, sagte Wakenhut am Dienstag in Berlin. Dem habe der mörderische Anschlag gegolten. Seine Anteilnahme im Gebet gelte den verletzten Opfern des Anschlags und den Angehörigen der Getöteten.

Wakenhut erläuterte, der derzeit in Kundus tätige katholische Militärgeistliche sei in die Betreuung der betroffenen Soldaten eingebunden. Der Anschlag zeige erneut die Gefährlichkeit, die mit Auslandseinsätzen einhergehe.

Jung: Rückzug wäre großer Fehler
Verteidigungsminister Franz Josef Jung (CDU) wirbt auch nach dem tödlichen Anschlag auf zwei weitere Bundeswehrsoldaten in Afghanistan für eine Fortsetzung des Militäreinsatzes am Hindukusch. Ein Rückzug aus dem Land wäre ein großer Fehler, sagte der Minister am Montagabend in Berlin. Er fügte hinzu: «Afghanistan darf nicht wieder zurückfallen in ein Ausbildungszentrum für den Terrorismus.» Auch Politiker von SPD und Grünen warnten vor einem Abzug der Bundeswehr. Der Terrorismusexperte Rolf Tophoven befürchtet bei einem deutschen Rückzug sogar das Ende der NATO-Strategie in Afghanistan.

Bei dem Selbstmordanschlag in der Nähe von Kundus kamen am Montag auch fünf afghanische Kinder ums Leben. Die beiden getöteten 22 und 25 Jahre alten Soldaten waren mit 160 deutschen und 30 afghanischen Soldaten sowie 20 Polizisten an einer Operation beteiligt, um ein Waffenlager auszuheben. Der Selbstmordattentäter hatte den Sprengsatz auf einem Fahrrad gezündet. Bei dem Anschlag wurden zwei weitere deutsche Soldaten und ein afghanisches Kind verletzt. Die Todesopfer gehörten dem Fallschirmjägerbataillon 263 aus Zweibrücken an. Zu der Tat hat sich die radikalislamische Taliban bekannt. Durch den Anschlag hat sich die Anzahl der getöteten deutschen Soldaten in Afhanistan auf dreißig erhöht.

Jung nannte die Tat hinterhältig und feige und sprach den Angehörigen sein Mitgefühl aus. In der Region um Kundus gebe es einen «kritischen Bereich», sagte Jung. Deshalb habe man bereits Verstärkungskräfte nach Kundus geschickt. «Wenn wir den Terror nicht in Afghanistan bekämpfen, dann kommt er zu uns», sagte der Minister. Ziel sei es, die afghanische Regierung in die Lage zu versetzen, selbst für die Sicherheit im Land zu sorgen.

Steinmeier: Hintergründe aufdecken
Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) zeigte sich bestürzt über die Tat: «Die Bundesregierung verurteilt diesen mörderischen Anschlag auf das Schärfste. Gemeinsam mit den afghanischen Behörden werden wir alles daran setzen, die Hintergründe aufzudecken und die Hintermänner zur Verantwortung zu ziehen», erklärte Steinmeier.

Der Grünen-Verteidigungsexperte Winfried Nachtwei warnt derweil vor einer Grundsatzdebatte über den Einsatz. «Es ist völlig falsch und unangebracht, bei jedem dieser schrecklichen Anschläge grundsätzliche wieder die Sinnfrage zu stellen», sagte er.

Ähnlich äußerte sich SPD-Fraktionsvize Walter Kolbow. Der Bundestag habe vor zwei Wochen «einem weiteren Einsatz in Afghanistan zugestimmt. Es muss dabei bleiben, denn er dient auch der eigenen Sicherheit unserer Soldaten und der Zukunft des Landes», sagte Kolbow.

Nach Einschätzung Tophovens würden die Taliban einen deutschen Rückzug «als Sieg über den Westen, über die Ungläubigen interpretieren.» Der Sicherheitsexperte fügte hinzu: «Es wäre auch das Ende der NATO, wenn hier keine gemeinsame NATO-Strategie verfolgt würde. Dann müssten ja gleichzeitig alle abziehen, die Amerikaner würden dies aber nicht tun.»

Die deutsche Politik habe lange von einer «Friedensmission» gesprochen. Aber: »Es ist ein Kampfeinsatz, ein Krieg.« Solle das Land wirklich stabilisiert werden, «dann müsste ein Vielfaches der heutigen Truppe dort sein, mindestens 200 000 internationale Soldaten».

Die Afghanistan-Expertin der Stiftung Wissenschaft und Politik, Citha Maaß, empfiehlt den Deutschen eine «Kontaktoffensive». Die Soldaten und Aufbauhelfer sollten auch mit den traditionellen Autoritäten, also Stammesältesten oder religiösen Führern ins Gespräch kommen und bei ihnen um Unterstützung werben.

Zugleich hält Maaß die Absetzung des Gouverneurs der Provinz Kundus, Engineer Mohammad Omar, für einen Beitrag zur Sicherheit der deutschen Soldaten. «Der Gouverneur wurde vom afghanischen Präsidenten Hamid Karsai entsandt und ist hoch korrupt», sagte sie. »Dass Attentätern Unterschlupf bereitgestellt wird, ist auf eine weit verbreitete Unzufriedenheit in der Bevölkerung zurück zu führen.» Omar trage zu dieser Unzufriedenheit wesentlich bei.