Kriegsbilder können bei Senioren alte Traumata reaktivieren

Mit Eiswürfeln und guten Bildern zurück in die Gegenwart

Nicht nur Kinder haben Probleme, die verstörenden Bilder und Nachrichten aus der Ukraine einzuordnen. Auch bei Menschen, denen der Zweite Weltkrieg ihre Kindheit genommen hat, können wieder alte Wunden aufbrechen.

Autor/in:
Angelika Prauß
Eine junge Frau hält die Hände eines alten Mannes / © Africa Studio (shutterstock)
Eine junge Frau hält die Hände eines alten Mannes / © Africa Studio ( shutterstock )

Nächte im Luftschutzkeller, zerstörte Häuser und ganze Trümmerlandschaften, Bilder von zerfetzten Menschen und Tieren - wer einmal einen Krieg erlebt und überlebt hat, den verfolgen die schrecklichen Eindrücke und Erlebnisse oft ein Leben lang. Noch immer leben hierzulande rund fünf Millionen Deutsche, deren Kindheit von den Schrecken des Zweiten Weltkriegs geprägt war. "Nie wieder Krieg" hatten sich die Überlebenden 1945 geschworen. Fassungslos und verstört verfolgen sie nun die aktuellen Nachrichten aus der Ukraine. Wie kann man ihnen helfen.

Akut gehe es vor allem darum, die alten Menschen zu beruhigen und mit etwas Schönem abzulenken, sagt Sabine Bode, Expertin für das Thema seelische Kriegsfolgen und Autorin mehrerer Bücher zu den Themen Kriegskinder und -enkel. "Im Prinzip ist es das, was auch Kinder brauchen, wenn sie zutiefst erschüttert wurden. Bei Kindern wie auch bei alten Menschen kann schon ein heißer Kakao sein, vor allem aber körperliche Nähe", sagt die Kölner Journalistin. Dabei sollte man selbst "innerlich ruhig und ohne jeden Zeitdruck" sein. Beschwichtigen dagegen beruhige die Menschen nicht, "es bewirkt das Gegenteil". Angehörige und stationäre Pflegekräfte seien meist überfordert mit der Situation und könnten das nicht leisten, stellt Bode fest.

Sprechen über den Krieg kann gut oder schlecht sein

Zugleich kommt es aus ihrer Sicht auf den einzelnen Betroffenen und auf die Beziehung zu den Menschen in seinem unterstützenden Umfeld an, ob eine Verarbeitung des Erlebten gelingen konnte und kann. Wenn alte Menschen sich durch die jüngsten Nachrichten nicht mehr beruhigen könnten, deutet dies für Bode darauf hin, dass frühe seelische Kriegsverletzungen nur schlecht vernarbt sind und Wunden wieder aufbrechen. Hier könnten Seelsorger, Ärzte und Psychotherapeuten eine gute Adresse sein.

Dass Gespräche über das Erlebte in einem geschützten Raum entlasten können, weiß auch Martina Böhmer, Fachberaterin für geriatrische Psychotraumatologie. Es gelte dabei feinfühlig zu beobachten, ob das Sprechen über den Krieg dem Gegenüber guttut - oder zu sehr aufwühlt.

Gezieltes Anknüpfen an Erfahrungen

Man sollte dabei unterscheiden zwischen alten Bildern, die in dem Menschen hochkommen, und der Wirklichkeit im Hier und Jetzt. "Wenn sie die Nachrichten sehen, sind sie ja nicht selbst im Kriegsgeschehen in der Ukraine." Den Angehörigen oder einer Pflegekraft rät sie, sensibel bei dem alten Menschen nachzufragen: "Was hast Du selbst erlebt? Was macht Dir konkret Angst, wie kann ich Dir helfen, damit Du Dich jetzt besser fühlst?"

Lehrer fordern mehr Personal für Integration ukrainischer Kinder

Für die erwartete Aufnahme geflüchteter Kinder aus der Ukraine an deutschen Schulen haben Lehrerverband und Erziehungsgewerkschaft GEW eine bessere Personalausstattung gefordert. "Nach fast zwei Jahren Pandemie und dem ohnehin dramatischen Lehr- und Fachkräftemangel wird das eine große Herausforderung für die Schulen, obwohl sich die Lehrkräfte erfahrungsgemäß sehr für geflüchtete Kinder und Jugendliche engagieren", sagte Anja Bensinger-Stolze, Vorstandsmitglied Schule der GEW dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (Mittwoch).

Ukraine, Uzhhorod: Kinder sind in einem Zug während der Evakuierung von Flüchtlingen, die aus ukrainischen Städten unter Beschuss der russischen Armee geflohen sind (dpa)
Ukraine, Uzhhorod: Kinder sind in einem Zug während der Evakuierung von Flüchtlingen, die aus ukrainischen Städten unter Beschuss der russischen Armee geflohen sind / ( dpa )

Berichte über die Ereignisse in der Ukraine können aus Sicht von Christine Sowinski, Diplom-Psychologin beim Kuratorium Deutsche Altershilfe, auch eine "Brücke zu einem Gespräch" sein. Dabei sei es hilfreich, durch gezieltes Nachfragen "an die Lebenserfahrungen der Menschen anzuknüpfen", erklärt sie im Interview mit der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA). So könne man fragen, was der alte Mensch in der Situation in Kiew machen würde, ob er fliehen oder einen Bunker aufsuchen würde und was dabei zu beachten sei. "Dadurch kommen die Menschen vom passiven Leiden zu ihren Kompetenzen", sagt Sowinski. Wenn der Betroffene mit Abwehr auf das Thema reagiert, sollte aber kein Gespräch aufgezwungen werden.

Die Gefahr der Retraumatisierung

Wenn alte Menschen das Kriegsgeschehen in der Ukraine verfolgten, besteht aus Sicht von Beraterin Böhmer die Gefahr der Retraumatisierung, "das Verschwimmen des Geschehens im Fernseher mit der eigenen Geschichte". Auslöser können Reize wie Gerüche, Szenen oder eine Stimme sein. Eine Retraumatisierung sei daran zu erkennen, dass sich das Verhalten des Menschen ändere: Entweder sei er sehr aufgeregt, gestresst und habe eine veränderte Atmung. Oder er geht aus dem Augenkontakt, driftet ab, ist innerlich woanders und wirkt wie abgespalten.

In diesem Fall sollten Angehörige oder Pflegekräfte den alten Menschen ansprechen und behutsam "zurück ins Hier und Jetzt holen", etwa indem er eingeladen wird, den Ort zu beschreiben, an dem er sich gerade befindet. Oder indem der Person gespiegelt wird: "Schau mal, Du bist hier, die Sonne scheint in Dein Zimmer, und draußen singen die Vögel". Um einen traumatisierten Menschen wieder in Kontakt mit der Gegenwart zu bringen, können laut Böhmer auch taktile Reize helfen - etwa ein Eiswürfel, der über den Handrücken geführt wird.

Keine Scheu vor therapeutischer Hilfe

Unterstützen können aus Böhmers Erfahrung auch spezielle Imaginationsübungen, bei denen sich ein traumatisierter Mensch einen sicheren Ort vorstellt, an dem ihm nichts widerfahren kann. "Angehörige können Senioren dabei unterstützen." Denn "durch das Verfolgen der Nachrichten entstehen furchtbare innere Bilder - diesen kann man gute Bilder entgegensetzen", sagt Böhmer. Das helfe im Übrigen jedem Menschen, sich von den Kriegsbildern zu distanzieren.

Alte Menschen, die sehr unter den Bildern der jüngsten Kriegsereignisse leiden, sollten sich nicht scheuen, therapeutische Hilfe zu suchen. In jedem Alter kann sich eine Therapie lohnen, sagt Böhmer. In Köln arbeitet sie in der Beratungsstelle "Paula e.V." für Frauen ab 60 und hilft ihnen, belastende Lebenserlebnisse aufzuarbeiten. "Es kommen auch alte und hochaltrige Frauen zu uns, Seniorinnen mit Mitte 90 sind keine Seltenheit."

Quelle:
KNA