Kloster Reichenau bedeutend für die deutsche Sprache

Wörterbücher aus dem Welterbe

Die Klosterinsel Reichenau hat nicht nur romanische Kirchen und kunstvolle Handschriften zu bieten. In ihrer Schreibschule entstanden wichtige Werke einer Frühform der deutschen Sprache.

Kirche Sankt Peter und Paul auf der Insel Reichenau / © Volker Hasenauer (KNA)
Kirche Sankt Peter und Paul auf der Insel Reichenau / © Volker Hasenauer ( KNA )

"Huare, stalu, ubarazidu und ubardrunchidu" - also "Unzucht, Diebstahl, Völlerei und Trunksucht" listet das Sündenregister auf. Als "sundic" (Sünde) in "gidahtdin ioh in dadin ioh in uuordon ioh in uuerkon" ("in Gedanken und Taten und Worten und Werken"): Was sich wie die Sprache einer Fantasy-Serie anhören mag, ist Althochdeutsch und Teil der "Reichenauer Beichte". Entstanden ist der Text im zehnten Jahrhundert im Benediktiner-Kloster Reichenau. 2024 feiert die Welterbestätte ihr 1.300-Jahr-Jubiläum. 

Das 724 gegründete Kloster entwickelte sich unter karolingischer Förderung bereits im achten Jahrhundert zu einem der bedeutendsten Reichsklöster, erklärt die Bamberger Sprachwissenschaftlerin Stefanie Stricker. Auf die Reichenauer Schreibschule, das Skriptorium, seien allein acht "Textdenkmäler des Althochdeutschen" und mehr als 40 Glossenhandschriften vom späten achten bis ins elfte Jahrhundert zurückzuführen. "Damit kann die Reichenau als immens wichtig für das Althochdeutsche und damit für die Entwicklung der deutschen Sprache angesehen werden", stellt die Expertin fest.

Texte zum Missionieren

Denn unser heutiges Deutsch, das Neuhochdeutsche, ist ohne die Vorläufer Mittel- und Althochdeutsch nicht denkbar. Letzteres wurde zwischen dem achten und elften Jahrhundert in vielen Dialekten gesprochen. Damals stand es dem Latein der Kirche gegenüber als Sprache des Volkes. Aus dem lateinischen Begriff für diese Volkssprache «theodiscum» entstand das althochdeutsche Wort "diutisk" - die Wurzel für das heutige Wort "deutsch". Weil die Missionare des frühen Mittelalters, ihre christliche Botschaft unters Volk bringen wollten, knüpften sie an die Volkssprache an. Und übersetzten lateinische Texte so, dass sie jede und jeder verstehen konnte.   

Bei allen Unterschieden haben althochdeutsche Texte im Vergleich zu Vorgängersprachen und -dialekten einiges gemeinsam: Bei den Konsonanten verschieben sich die stimmlosen Verschlusslaute p, t und k zu Reibelauten - was man heute noch vom hochalemannischen "chind" für "Kind" kennt. Auch bei den Vokalen gibt es Veränderungen. Beispielsweise wird ein "a" zu "e" abgeschwächt, wenn danach ein "i" folgt. Etwa bei der Pluralbildung von "gast" zu "gesti" (Gast und Gäste). 

Die mittelalterliche Volkssprache veränderte sich stetig durch den über die Kirche angeregten Kontakt mit antiken und christlichen Ideen. Dass die Mönche ihren Glauben nicht nur mündlich vermittelten, sondern auch schriftlich festhielten, war eine Revolution: Denn eine deutsche Schriftsprache existierte bis dahin nicht. Lesen und Schreiben waren für die allermeisten Menschen des Mittelalters unbekannte Welten. 

"Glossen zeigen den Sitz im Leben"

Das änderten die Kirchenorte und Klöster wie die Schreibschule auf der Bodenseeinsel. Dort entstand vor allem ein bestimmter Texttyp: "Glossare, Vorläufer unserer Wörterbücher, kommen bereits ab dem Ende des achten Jahrhunderts von der Reichenau", weiß Stricker. Die darin aufgelisteten Einzelwörter ("Glossen") seien deshalb bedeutsam, weil sie mit dem Überlieferungsbeginn ab dem frühen achten Jahrhundert anderen Texten zeitlich vorausgehen und auch mittelalterliche Lebenswelten spiegeln, die in den meist theologisch-religiösen Texten nicht vorkamen. "Die Glossen zeigen den Sitz im Leben", fasst die Sprachwissenschaftlerin zusammen. 

Neben Wörterbüchern gehen weitere Texte auf die Reichenau zurück - wie die Murbacher Hymnen und die Altalemannische Psalmen vom Anfang des neunten Jahrhunderts sowie der Kicila-Vers aus der Mitte des elften Jahrhunderts. Sie füllten die Bibliothek des Eliten-Klosters, die laut Stricker damals bereits mehr als 400 Bände umfasste.

Von dort werden 1.000 Jahre alte mittelalterliche Prachthandschriften, die teilweise zum Weltdokumentenerbe gehören, in der Ausstellung "Klosterinsel Reichenau - Welterbe des Mittelalters" vom 20. April bis 20. Oktober 2024 im Archäologischen Landesmuseum in Konstanz zu sehen sein. 

Murbacher Hymnen

Neben Themen wie Klosterinsel, Klosterbau, Liturgie und europaweite Beziehungen werden etwa 50 Handschriften und frühe Drucke, sogenannte Inkunabeln, gezeigt, sagt Olaf Siart vom Badischen Landesmuseum. Er ist wissenschaftlicher Projektleiter der Ausstellung "1.300 Jahre Klosterinsel Reichenau".

Mit Bezug zur Klosterschule wird dann auch die mittelalterliche Sprache behandelt. Die kannten auch die Göttinger Märchensammler und Sprachforscher Grimm, die sich mit ihrem "Deutschen Wörterbuch" um das heutige Deutsch verdient machten. Schließlich veranlasste der ältere der Brüder, Jacob, 1830 auch den Erstdruck der Murbacher Hymnen. Sie gelten als eines der frühesten Zeugnisse des Althochdeutschen - entstanden sind sie auf der Reichenau.

Unesco-Welterbe Klosterinsel Reichenau

Die Klosterinsel Reichenau im Bodensee war im Mittelalter eines der bedeutendsten geistlichen und kulturellen Zentren Europas. Etwa zwischen 800 und 1200 erblühten dort Theologie, Wissenschaften, Buchkunst und Musik. Mönche wirkten als politische Berater; die Klosterschule bildete Eliten aus.

Kirche Sankt Peter und Paul auf der Insel Reichenau / © Volker Hasenauer (KNA)
Kirche Sankt Peter und Paul auf der Insel Reichenau / © Volker Hasenauer ( KNA )
Quelle:
KNA