Kirchenrechtlerin Wijlens: Missbrauch-Vertuschen stärker ahnden

"Alle sind zu Achtsamkeit aufgerufen"

Wie ist das aktuelle Papst-Schreiben zum sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche zu werten? Die Kirchenrechtlerin Myriam Wijlens sieht die Ursache nicht im Zölibat. Im Interview benennt sie konkrete Maßnahmen, die nun getan werden müssen.

Symbolbild Missbrauch / © Julian Stratenschulte (dpa)
Symbolbild Missbrauch / © Julian Stratenschulte ( dpa )

KNA: Frau Professor Wijlens, welchen Nutzen hat dieser Papst-Brief? Was erhoffen Sie sich davon?

Myriam Wijlens (Professorin für Kirchenrecht an der Universität Erfurt): Ich glaube, der Papst will klar machen, dass er auf der Seite der Opfer steht und nicht auf der Seite von Bischöfen, die versucht haben, Missbrauch zu vertuschen. Zugleich ist es Zeit, diese deutliche Botschaft an die ganze Welt zu richten, auch dorthin, wo es vielleicht noch nicht möglich ist – aus welchen Gründen auch immer – über sexuellen Missbrauch zu sprechen.

In einer Audienz der Kinderschutz-Kommission beim Papst habe ich gemerkt, wie sehr er betroffen ist. Für ihn ist es unfassbar, dass gerade Kleriker, die Kinder zu Gott führen sollen, ihre Position derart missbrauchen.

KNA: Welches ist aus Ihrer Sicht ein herausragender Aspekt des Briefes?

Wijlens: Papst Franziskus unterscheidet zwei Ebenen des Machtmissbrauchs: Da sind diejenigen, die ihre Position ausnutzen, um Minderjährige und schutzbedürftige Erwachsene sexuell zu missbrauchen. Und es gibt jene, die ihre Macht missbrauchen, solche Fälle zu vertuschen. Zugleich stellt er den Zusammenhang her zwischen sexuellem Missbrauch, Missbrauch von Macht und dem des Gewissens.

Damit spricht er etwas aus, das viele nicht im Zusammenhang sehen wollen. Aber wir werden sexuellen Missbrauch nicht erfolgreich bekämpfen können, wenn wir nicht auch den Machtmissbrauch mitbekämpfen.

KNA: Welche Bedeutung hat es, dass der Papst sich an das "ganze Volk Gottes" wendet und nicht nur an die Bischöfe und Kleriker?

Wijlens: Der Papst betont, die Kleriker alleine werden es nicht schaffen, aus dieser Krise herauszukommen. Sie brauchen Laien, die ihnen immer wieder sagen: Das geht so nicht. Und die Kirche wird nur dann Vertrauen zurückgewinnen, wenn sie in Aufklärungs- und Aufarbeitungsgremien wirklich unabhängige Experten miteinbezieht. Wir brauchen hier die weltweit besten Fachleute zur Mitarbeit. Da muss die Kirche ihren inneren Kreis verlassen.

Zugleich ist es, glaube ich, ein Appell an alle Gläubigen, sich hinter die Opfer zu stellen. Es ist nicht selten so, dass die Täter beliebte Geistliche sind, die in der Gemeinde und bei Jugendlichen super ankommen. Wenn dann ein Missbrauchsvorwurf aufkommt, reagiert die Gemeinde mitunter reflexhaft und will unbedingt das positive Bild des Priesters aufrechterhalten und diffamiert die Opfer als Nestbeschmutzer. Somit sind alle zu Achtsamkeit aufgerufen.

KNA: Welche praktischen Konsequenzen sollten dem Brief nun folgen?

Wijlens: Es wäre gut, klar auszusprechen, dass es auch Bischöfe und andere Obere betrifft. Ich sehe im Grunde drei Aufgabenfelder: Erstens muss eine Kultur geschaffen werden, in der weder Platz ist für sexuellen Missbrauch von Minderjährigen, noch für einen Machtmissbrauch, der Vertuschen ermöglicht. Zweitens müssen wir Strukturen schaffen, die es ermöglichen auch Beschwerden gegen Personen in Leitungspositionen einzureichen. Drittens: Die Beschuldigten müssen ein gerechtes und transparentes Verfahren erhalten, und diejenigen, die vertuschen, müssen ebenfalls zur Rechenschaft gezogen werden. Nur so kann es Gerechtigkeit geben.

KNA: Bei den neuerlichen Berichten über große Missbrauchsskandale in den USA und Chile stehen wieder katholische Priester im Fokus. Von protestantischen Pfarrern als Tätern hört man deutlich seltener. Woran liegt das? Sind es Kirchenstrukturen, die Missbrauch begünstigen?

Wijlens: Das glaube ich nicht unbedingt. Man müsste erst einmal wissen wie viele katholische und wie viele evangelische Christen es etwa in Chile gibt, um zu wissen, von welchem Proporz man spricht. In den USA gibt es durchaus Missbrauch durch protestantische Geistliche – aber durch die Zersplitterung der einzelnen evangelischen Kirchen wird das Phänomen nicht so geballt publik.

In den Niederlanden, so habe ich gerade gehört, rücken derzeit die Zeugen Jehovas in den Blick. Und wenn man auf Australien schaut, hat die anglikanische Kirche auch einige Probleme in Sachen Missbrauch. Eine große Frage, die immer wieder gestellt wird, ist: Wie steht es um sexuellen Missbrauch in den Familien von evangelischen und anglikanischen Geistlichen? Was tut sich da, und können diese Opfer überhaupt darüber sprechen?

KNA: Welche Relevanz hat der Zölibat beim Thema Missbrauch?

Wijlens: Der Zölibat ist nicht eine Ursache für sexuellen Missbrauch von Minderjährigen. Sonst gäbe es keinen Missbrauch in Familien. Man weiß aber, dass Pädophile sich oft von Berufen angezogen fühlen, wo man viel mit Kindern arbeitet.

KNA: Greifen Ihrer Einschätzung nach die neuen Leitlinien und Präventionsordnungen der Bistümer, ist der Wille zu mehr Aufklärung und konsequenterer Strafverfolgung mehr als ein Lippenbekenntnis – oder werden wir in 20 Jahren erleben, dass es eine neue Aufarbeitungs-Kommission gibt, die sich mit den 2010-er Jahren beschäftigt?

Wijlens: Das werden wir erst dann wissen. Ich glaube schon, dass diese Kultur der Achtsamkeit schon etwas bewirkt und man sich an vielen Stellen tatsächlich bewusst ist: Hier muss genau geschaut werden. Aber die große Herausforderung wird darin bestehen, nicht nachzulassen und die Sensibilität lebendig zu halten.

KNA: Der US-Bericht aus Pennsylvania zeigt nach Ansicht von Opfervertretern, dass die Kirche häufig immer noch durch die Aufdeckung von staatlichen Stellen quasi gezwungen werden muss, sich mit der Aufklärung zu beschäftigen. Sprich: Es werde immer nur das zugegeben, was ohnehin schon nachgewiesen ist. Ist das auch Ihr Eindruck?

Wijlens: Ich glaube in der Tat, dass in der Kirche – weltweit betrachtet – der Mechanismus, den Schutz der Kinder an die erste Stelle zu setzen, noch in einer Entwicklungsphase ist. Das ist noch nicht in die DNA der Kirche übergegangen. Aber es gibt natürlich auch ein Dilemma: Wenn die Kirche alleine versuchen würde, ihre Vergangenheit aufzuarbeiten, käme schnell der Verdacht auf, dass man es quasi nur "unter sich" ausmacht. Ich halte es schon für eine große Hilfe, wenn eine staatliche Kommission schonungslos die Sachen auf den Tisch bringt.

In Deutschland ist eine besondere Situation: In den vergangenen Jahren gab es in unglaublich vielen Bistümern neue Bischöfe. Da wird sich nun zeigen müssen, welche Mechanismen diese jüngeren Bischöfe entwickeln, um mit dem Problem Missbrauch umzugehen. Sie sind vermutlich unbefangener, die Vergangenheit aufzuarbeiten, weil sie ja nicht für diese Altfälle verantwortlich gemacht werden können.

KNA: Sollte der Vatikan nicht mit gutem Beispiel vorangehen und mehr Akteneinsicht bei dem Thema ermöglichen? Der Papst könnte als oberster Gesetzgeber der Kirche doch alle Geheimhaltungsvorschriften aufheben, die Akten des Vatikan freigeben und auch die Bischöfe weltweit dazu auffordern.

Wijlens: Ich denke schon, dass die katholische Kirche dem nachgehen muss, ob ihre derzeitigen Verfahren ausreichend den Rechten der Beschuldigten sowie denen der Opfer Rechnung tragen. Dazu gehört die Frage nach dem Umgang mit Informationen, der verbunden ist mit einer Kultur der Transparenz. Aber auch hier sind der Opferschutz und die Unschuldsvermutung wichtig.

KNA: An der Universität Erfurt bieten Sie seit zehn Jahren Seminare zum Umgang mit sexuellem Missbrauch in Institutionen an – wie ist die Nachfrage, was ist Ihr Eindruck?

Wijlens: Es gibt eine sehr hohe Nachfrage. In der Regel haben wir 160 Bewerbungen auf 30 Plätze. Die Teilnehmer sind keine Theologen, sondern kommen aus anderen Fächern im Rahmen ihres Bachelor-Studiums.

Wir beschäftigen uns etwa damit: Was sind die Delikte in der Kirche, was sind sie im Staat? Wie läuft eigentlich ein Missbrauchsverfahren ab? Welche Aspekte der Rechtspsychologie sind wichtig: Wie wird festgestellt, ob ein fünfjähriges Kind die Wahrheit sagt? Wie stellt man Schuldfähigkeit fest? Wir beschäftigen uns mit Opfer- und Täterprofilen. Außerdem nehmen wir Präventionskonzepte von Bistümern, Sportvereinen, Schulen und Heimen in den Blick. Es kommt immer was dazu: zuletzt sexuelle Übergriffe auf Flüchtlingskinder.

Von Karin Wollschläger


Quelle:
KNA
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