Kirchen mahnen am Tag der Deutschen Einheit zum Abbau von Ost-West-Gegensätzen

"Übersehen und beschönigt"

Die Kirchen haben am Tag der deutschen Einheit zu einem umfassenderen Abbau der Ost-West-Gegensätze aufgerufen. Der Mangel an innerer Einheit werde "häufig übersehen, beschönigt oder gar nicht wahrgenommen", beklagte der Hamburger Erzbischof Werner Thissen in seiner Predigt bei einem ökumenischen Gottesdienst in Kiel.

 (DR)

Die Kirchen haben am Tag der deutschen Einheit zu einem umfassenderen Abbau der Ost-West-Gegensätze aufgerufen. Der Mangel an innerer Einheit werde "häufig übersehen, beschönigt oder gar nicht wahrgenommen", beklagte der Hamburger Erzbischof Werner Thissen in seiner Predigt bei einem ökumenischen Gottesdienst in Kiel. Die evangelische Bischöfin Bärbel Wartenberg-Potter mahnte, Deutschland brauche einen "Geist des Teilens, nicht des Raffens". Hauptrednerin beim anschließenden Festakt war Bundeskanzlerin Angela Merkel. In ihrer Rede rief sie die Deutschen dazu auf, die "Chance vor dem Risiko" zu sehen.

Gräben werden noch Generationen bestehen bleiben
Wer die Einheit fördern will, brauche einen sensiblen Umgang mit den Denk- und Redegewohnheiten in Ost und West, betonte Thissen. Es werde noch Generationen dauern, bis die Gräben zwischen den Landesteilen nicht mehr trennten. Die deutsche Einheit sei nicht nur ein wirtschaftliches Problem, so der Erzbischof. Sie greife tief hinein in Denken und Empfinden vieler Menschen, die eine unterschiedliche Geschichte hätten. Wartenberg-Potter sagte, die Menschen stünden mit ihrer Friedenssehnsucht "mitten in der globalisierten Welt mit ihrer Arbeitsplatzvernichtung, den wachsenden Schlangen vor den Suppenküchen, den Parolen der Rechtsradikalen und der Angst vor fremden Kulturen".

Pantomimischer "Geistkämpfer"
Die Feier stand unter dem Leitwort "Geist der Einheit - Band des Friedens". Zahlreiche Vertreter aus Politik und Gesellschaft waren anwesend, darunter auch Bundestagspräsident Norbert Lammert und SPD-Chef Kurt Beck. Der Schauspieler Matisek Brockhues stellte pantomimisch den "Geistkämpfer" dar. Die berühmte Bronzestatue von Ernst Barlach (1870-1938) steht vor der Kieler Nikolaikirche und gilt als Sinnbild für den "Sieg des Geistigen über das Irdische". Thissen erinnerte bei dem Gottesdienst daran, dass das Erzbistum Hamburg neben Berlin die einzige katholische Diözese in Deutschland mit Landesteilen in Ost und West ist. Zum Nordbistum gehören rund 392.000 Gläubige in Hamburg, Schleswig-Holstein und Mecklenburg.

Kiel ist in diesem Jahr erstmals Ort der zentralen Einheitsfeier der Bundesrepublik, die jedes Jahr in einer anderen deutschen Landeshauptstadt stattfindet. Schleswig-Holstein hat mit Ministerpräsident Peter Harry Carstensen (CDU) zurzeit den Vorsitz im Bundesrat. Hauptrednerin bei einem Festakt am Mittag ist Kanzlerin Merkel. Bereits am Montag begann in der Ostseestadt ein buntes Veranstaltungsprogramm. Dabei stellen sich unter anderem Parlament, Regierung, Bundesrat sowie die 16 Bundesländer vor. Der Tag der deutschen Einheit erinnert an den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland am 3. Oktober 1990. Die Vereinigung war durch den friedlichen Wandel in der DDR möglich geworden.

"Viele haben das noch immer nicht begriffen"
Hören Sie im domradio-Interview den stellertretenden Vorsitzender des Leipziger Bürgerkomitees Tobias Hollitzer: "Deutschland ist seit 1989 ein neues Land, viele haben das noch immer nicht begriffen."

Bundeskanzlerin Merkel: Tag der Einheit Grund zum Feiern
"Ich bekenne mich zu denen, die sagen: Der 3. Oktober ist ein Feiertag", sagt Bundeskanzlerin Angela Merkel in ihrem neuen Video-Podcast. Sie nimmt damit Bezug auf eine Umfrage, wonach nur ein knappes Drittel der Befragten erklärte, der Tag der Deutschen Einheit sei Anlass zum Feiern, und rund zwei Drittel anderer Meinung sind. Hören Sie hier die Ansprache der Kanzlerin.

Genscher: Ostdeutsche Länder bei Bildung stärker fördern
Der ehemalige Außenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) fordert für eine privilegierte Förderung der ostdeutschen Bundesländer bei den Bildungsinvestitionen. Zukunftsvertrauen könne dort stark gefördert werden, „wenn man die notwendigen Investitionen in Bildung und Wissenschaft schwerpunktmäßig auf den Osten ausrichten würde", sagte Genscher am Montag im Deutschlandradio Kultur. So würden in den neuen Ländern „attraktive und zukunftsorientierte Arbeitsplätze" entstehen.

Auf zu erwartende Einwände von Ministerpräsidenten aus westdeutschen Bundesländern sagte der FDP-Ehrenvorsitzende: „Man muss einfach sehen, dass die, die nur 16 Jahre Zeit hatten, eine besondere Förderung brauchen. Andere hatten Jahrzehnte Zeit". So habe sich Bayern erst im Jahre 1989 durch langfristige Förderung vom Tropf des Länderfinanzausgleichs befreien können.

Genscher kritisierte, dass man nach der Wende nicht bereit gewesen sei, „die erprobten Regeln für die Schaffung von Arbeitsplätzen, wie sie in Westberlin während der deutschen Teilung galten", anzuwenden. Das viele Geld, das in den Osten geflossen sei, sei sofort in den Westen zurückgegangen, „weil man zwar Ladentische aufgestellt hat, aber die Werkbänke nicht modernisiert hat", sagte Genscher. Gleichwohl habe sich durch das Geld auch „Vieles zum Guten verändert." So habe der Osten heute die modernste Infrastruktur Deutschlands.

Gysi: Aus Einheit endlich eine „Vereinigung" machen
Vor dem Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober fordert der Chef der Linkspartei im Bundestag, Gregor Gysi, aus der Einheit endlich eine „Vereinigung" zu machen. Dazu gehöre, „bestimmte Ost-Erfahrungen" wie ein Kindertagesstättenangebot für Kinder von null bis drei Jahren oder die Versorgung der Patienten durch Polikliniken in ganz Deutschland einzuführen und dadurch die Lebensqualität der Menschen auch in den alten Bundesländern zu erhöhen, sagte Gysi am Montag in Berlin. In den vergangenen 16 Jahren sei dies unterblieben. Dadurch sei den Ostdeutschen „die Steigerung ihres Selbstwertgefühls nicht gegönnt und den Westdeutschen eine solche Steigerung der Lebensqualität versagt" worden. Erst wenn diese Fragen in Angriff genommen würden, ließen sich auch andere Probleme leichter lösen.
Gysi forderte „den gleichen Respekt" für Biographien aus Ost und West, gleichen Lohn für gleiche Arbeit sowie gleiche Renten für gleiche Lebensleistung. In den strukturschwachen Regionen müsse es staatliche Fördermaßnahmen zur Überwindung der unerträglich hohen Arbeitslosigkeit geben.

Carstensen: Deutsche Einheit ist Grund zu Stolz und Freude
Bundesratspräsident Peter Harry Carstensen (CDU) hat sich zufrieden über die Fortschritte im Zusammenwachsen von West und Ost geäußert. Es sei eine „gewaltige Entwicklung, die Ost und West" seit 1990 gemacht hätten, sagte Carstensen am Montag im RBB-Inforadio. Man müsse sich stets vergegenwärtigen, wie es vorher ausgesehen habe: „Da hatten wir eine Grenze mit Stacheldraht und mit Selbstschussanlagen. Da hatten wir ein Auseinanderwachsen von Gesellschaften. Und ich glaube, es ist zwar in Deutschland offensichtlich so üblich, dass man immer erst über das Schwierige und über die Probleme redet, aber wer sich mal ansieht, was in den letzten 16 Jahren passiert ist und wie sich das entwickelt hat - ich bin stolz darauf."

Mit Blick auf die offiziellen Feiern zum Tag der Deutschen Einheit in Kiel sagte Schleswig-Holsteins Ministerpräsident, auch wenn es „noch viel zu tun" gebe in Deutschland, sollte man sich „erst einmal freuen über diese Einheit". Die Menschen sollten „stolz sein, was die Deutschen in Ostdeutschland dadurch, dass sie die Ärmel aufgekrempelt haben, geleistet haben, und die Westdeutschen dadurch, dass sie auch Solidarität gezeigt haben".

Tiefensee räumt Probleme beim Aufbau Ost ein
Der Ostbeauftragte der Bundesregierung, Bundesverkehrsminister Wolfgang Tiefensee (SPD), räumt Schwierigkeiten beim Aufbau der neuen Bundesländer ein. „Man darf nicht den Eindruck erwecken, man könne die Probleme im Handumdrehen lösen. Das wird schon noch 15 bis 20 Jahre dauern", sagte Tiefensee am Montag im ARD-"Morgenmagazin". Das Geld aus dem Solidarpakt II müsse „klug eingesetzt" werden.
Die Bundesregierung habe sich dazu bekannt, 156 Milliarden Euro bis zum Jahr 2019 zur Verfügung zu stellen. „Aber es fällt einer Reihe von Bundesländern noch schwer, dieses Geld zielgenau einzusetzen", kritisierte der SPD-Politiker.

Der Aufbau der ostdeutschen Bundesländer wird nach Einschätzung von Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse (SPD) noch lange Zeit in Anspruch nehmen. Auch 16 Jahre nach der Wiedervereinigung seien die wirtschaftlichen und sozialen Probleme in den neuen Ländern noch groß, sagte Thierse am Montag der Nachrichtenagentur ddp in Berlin. Bis zum erfolgreichen Abschluss des Aufbaus Ost werde es daher vermutlich noch einmal so lange dauern.


DIHK: Der Osten könnte wieder aufholen
Der Abstand zwischen Ost und West wird nach Einschätzung des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK) nicht weiter zunehmen. Die neuen Länder hätten sogar erstmals seit drei Jahren wieder die Chance, wirtschaftlich aufzuholen, sagte DIHK-Chefvolkswirt Axel Nitschke der Chemnitzer „Freien Presse" (Montagausgabe) laut Vorabbericht. Eine Konjunkturbefragung bei 6500 ostdeutschen Unternehmen habe ergeben, dass die Wirtschaft der neuen Länder in diesem Jahr mit mehr als zwei Prozent mindestens genauso stark wachse wie die im Westen.

Insbesondere die ostdeutsche Exportindustrie habe ihre Wettbewerbsfähigkeit so gesteigert, dass sie mit dem Westen mithalten kann, unterstrich Nitschke. Der ostdeutschen Industrie komme zugute, dass die mittel- und osteuropäischen EU-Mitgliedsländer 2006 außerordentlich hohe Wachstumsraten aufwiesen, und sie in diesen Regionen besonders präsent sei. Zudem profitierten die Handels- und Bauunternehmen in den neuen Ländern von den Vorzieheffekten wegen der zu erwartenden Mehrwertsteuererhöhung.

Abwanderung aus Ostdeutschland geht weiter zurück
Die Abwanderung aus Ostdeutschland in die alten Bundesländer ist im vergangenen Jahr weiter zurückgegangen. Wie das Statistische Bundesamt am Freitag in Wiesbaden mitteilte, kehrten
2005 rund 137.000 Menschen den neuen Ländern den Rücken und suchten ihr Glück im Westen. Das waren 9.000 weniger als im Vorjahr. Weil zugleich etwa 88.000 Westdeutsche gen Osten zogen, verloren die neuen Bundesländer unter dem Strich rund 49.000 Einwohner durch Binnenwanderung.

Rechnet man die Abwanderung ins Ausland, den Saldo aus Geburten und Sterbefällen sowie der Binnenwanderung zusammen, dann ist die Bevölkerung der neuen Länder in den vergangenen 15 Jahren um 9,5 Prozent auf 13,3 Millionen Menschen gesunken. Zeitgleich wuchs die Bevölkerungszahl im Westen um 4,1 Millionen auf 65,7 Millionen Menschen (plus 6,7 Prozent).

Umfrage: Mehrheit der Ostdeutschen fühlt sich nicht akzeptiert
Auch 16 Jahre nach der Wiedervereinigung fühlt sich die überwiegende Mehrheit der Ostdeutschen offenbar als „Bürger zweiter Klasse". 74 Prozent hätten eine entsprechende Frage in einer Emnid-Umfrage für den Nachrichtensender N24 mit „Ja" beantwortet, teilte der Sender am Montag in Berlin mit. Nur 26 Prozent der Ostdeutschen fühlten sich als vollwertige Bürger akzeptiert.

Das Engagement der Bundesregierung zum Aufbau Ost bewerten der Umfrage zufolge 68 Prozent der Menschen in den neuen Bundesländern als unzureichend. Nur 31 Prozent halten die Maßnahmen der Politik für ausreichend. Umgekehrter Meinung sind die westdeutschen Bürger. 62 Prozent von ihnen halten das Ost-Engagement der Regierung für ausreichend. 33 Prozent finden, es müsste mehr getan werden.

17 Jahre danach: Zeitzeugen berichten
Nieselregen, Windböen und Nebelfelder: Es waren kalte, ungemütliche Tage im Herbst 1989. Doch in Osten Deutschlands brodelte es. Montag für Montag zogen Menschenmassen in Leipzig und anderen Städten auf die Straße. Sie kämpften ohne Gewalt für ihre Freiheit. Heute - 17 Jahre danach - gilt diese Zeit als friedliche Revolution, als einmalige Bewegung in der deutschen Geschichte. Andreas Münch ist Teil dieser deutschen Geschichte. Er war in der Protestbewegung, dem „Neuen Forum" in Leipzig, organisierte und ging selbst auf die Straße.  Hören Sie einen Beitrag von Ina Rotscheidt.
(ddp,edp,dr)