Kirche kann kaum zur Deeskalation in Frankreich beitragen

"Die Gewalt hat nur darauf gewartet auszubrechen"

Die vierte Nacht in Folge ist es zu schweren Krawallen in Frankreich gekommen. Auslöser war der gewaltsame Tod eines 17-Jährigen durch einen Polizisten. Zur Befriedung kann eine geschwächte Katholische Kirche wenig beisteuern.

Unruhen bei Paris in Nanterre / © Lewis Joly (dpa)
Unruhen bei Paris in Nanterre / © Lewis Joly ( dpa )

DOMRADIO.DE: Wie erleben Sie die Krawalle und die Ausschreitungen?

Jakob Keienburg studiert Jura in Paris, promoviert in der Philosophie und wohnt im Haus der deutschsprachigen Gemeinde St. Albertus Magnus in Paris.  / © privat
Jakob Keienburg studiert Jura in Paris, promoviert in der Philosophie und wohnt im Haus der deutschsprachigen Gemeinde St. Albertus Magnus in Paris. / © privat

Jakob Keienburg (Jurastudent und Philosophiedoktorand in Paris, Mitglied der deutschsprachigen katholischen Gemeinde): Die Stimmung hat sich hier binnen weniger Tage sehr aufgeheizt. Die heftigen Ausschreitungen kann man vom Fenster aus beobachten. Die Krawalle beschränken sich ja nicht nur auf Nanterre. Es gab in ganz Frankreich und auch in den großen Städten, bis ins Zentrum von Paris, nicht nur den Vororten, Ausschreitungen, von denen man etwas mitbekommen konnte.

Oder man hat einen Geruch draußen mitbekommen. In den letzten beiden Wochen hat es auch immer sehr nach Böllern und Feuerwerkskörpern gerochen, weil viele von ihnen abgeschossen wurden. Und abgesehen davon, verfolgt man das über das Fernsehen, über das Radio und man merkt, wie aufgeladen die Situation ist, wie die Politiker nervös werden. Macron ist heute verfrüht aus Brüssel zurückgekehrt, um sich dieser Situation anzunehmen und man wird sehen müssen, welche Entscheidung noch heute getroffen werden muss.

DOMRADIO.DE: Der Auslöser war ein tödlicher Schuss eines Polizisten auf einen 17-jährigen. Der Polizist hat sich jetzt bei der Familie des Verstorbenen entschuldigt, so sagt es zumindest sein Anwalt. Die Menschen beruhigt das aber nicht. Kann man vermuten, dass da etwas ausgebrochen ist, was in der Gesellschaft schon lange schwelte?

Jakob Keienburg

"Die Frage ist jetzt: Was generiert jetzt diese Gewalt?"

Keienburg: Das kann man definitiv sagen. Die Frage ist, wo man diesen gesellschaftlichen Bruch genau verortet. Dass Probleme zutage treten, die es schon seit Jahrzehnten gibt, das ist überhaupt keine Frage. In den letzten beiden Nächten wurden nicht nur Polizeikommissariate angezündet, sondern auch Rathäuser, Schulen, ein Bus Depot im Norden von Paris, Straßenbahnen. Da fällt es schwer einen Bezug zu sehen zu den Geschehnissen in Nanterre. Und dann merkt man, dass sich da eine Gewalt entlädt, die nur darauf gewartet hat, auszubrechen. Die Frage ist jetzt: Was generiert jetzt diese Gewalt? Und darüber gehen die Meinungen weit auseinander.

DOMRADIO.DE: Es wird ja noch untersucht, ob das ein rassistischer Vorfall war, oder nicht. Meinen Sie, dass der Anlass jetzt genommen wird, den generellen Unmut auf die Straße zu tragen?

Der Geruch der Feuerwerkskörper sei auf den Straßen, sagt Keienburg. / © Aurelien Morissard (dpa)
Der Geruch der Feuerwerkskörper sei auf den Straßen, sagt Keienburg. / © Aurelien Morissard ( dpa )

Keienburg: Zum einen muss man sagen, dass der Fall selbst nicht geklärt ist. Nicht nur, ob das jetzt rassistisch ist. Ich glaube, das wird man nicht sagen können, was da im Kopf des Polizisten vorgegangen ist. Die Frage ist, ob dieser Schuss gerechtfertigt war oder nicht. Und diese Frage ist nicht abschließend geklärt. Die Justiz hat sich dazu nicht geäußert. Es gibt ein Video das  Teil des Konflikts ist. Man sagt, wenn es dieses Video nicht gäbe, würde sich der Polizist auf legitime Selbstverteidigung berufen und dann wäre es das auch schon.

Aus diesem Video gewinnt man den Eindruck, dass keine akute Lebensgefahr für den Polizisten bestand und somit keine legitime Selbstverteidigung geltend gemacht werden kann. Aber abgesehen davon ist dieses Video nicht alles, und die Justiz wird sich auch dazu äußern müssen, ob dieser Schuss gerechtfertigt war.

Jakob Keienburg

"Hier entladen sich Konflikte, die seit Jahren am Schwelen sind."

Abgesehen davon entladen sich hier Konflikte, die seit Jahren am Schwelen sind. Die Gewalt richtet sich gegen Symbole des Staates. Auch gegen solche, die bestimmte Dienste für die Bevölkerung gewährleistet. Und das man kann das nur schwer in Beziehung setzen zu dem, was jetzt in Nanterre passiert ist.

DOMRADIO.DE: Wir erinnern uns noch an die Proteste gegen die Sozialreform von Präsident Macron. Und jetzt versucht die Politik versucht auch die aktuellen Proteste wieder unter Kontrolle zu bringen. Muss am politischen Kurs etwas verändert werden?

Keienburg: Man muss schon sagen, dass quasi jährlich ein Konflikt in Frankreich ausbricht, mit massiven Folgen. Es gab die Gelbwestenproteste, es gab die Proteste gegen die Rentenreform, vor Corona, nach Corona, andererseits muss man jetzt auch sehen, dass es nicht dieselbe Bevölkerungsgruppe ist, die da jetzt rebelliert. Die Gelbwesten kamen primär aus dem ländlichen Milieu, jetzt sind es die Banlieues. Von daher ist es schwierig eine Kontinuität zu sehen ist angesichts dessen was dort passiert.

Die Proteste richten sich gegen Symbole des Staates. / © Michel Euler (dpa)
Die Proteste richten sich gegen Symbole des Staates. / © Michel Euler ( dpa )

Der Referenzpunkt zu der Debatte sind eher die Vorfälle von 2005. Damals gab es schon massive Ausschreitungen in den Banlieues, die ähnlich veranlasst waren; durch nicht zu rechtfertigende Polizeigewalt. Damals wurden in den Nächten, in denen es am extremsten war 15.000 Polizisten mobilisiert. Gestern Nacht waren 40.000 im Einsatz und der Staat kann dem nicht beikommen.

Jakob Keienburg

"Wir sind an einen Punkt geraten, an dem der Staat es nicht unter Kontrolle bekommt."

Die Situation ist an den Punkt geraten, wo der Staat es nicht unter Kontrolle bekommt. Er versucht es. In der nächsten Nacht wird er es wahrscheinlich mit noch massiveren Mitteln versuchen, aber aktuell gelingt es ihm nicht.

Davon abgesehen, natürlich stellt sich natürlich die Frage was man machen kann, um diese Bevölkerungsgruppen in die Gesellschaft zu integrieren und um ein friedliches Zusammenleben zu ermöglichen. Man hat 40 Milliarden Euro in die Vorstädte gesteckt und leider muss man sagen, dass sich die Visionen, die damals an diesem Infrastrukturprojekt hingen, sich als Illusion erwiesen haben. Und deswegen ist die Politik angesichts dessen doch einigermaßen ratlos. Es wird sehr heftig darüber diskutiert, wie man darauf reagieren kann. Jetzt auf der politischen Ebene und langfristig.

DOMRADIO.DE: Hat die Kirche in Frankreich irgendeine Möglichkeit, als Vermittlerin aufzutreten?

Keienburg: Die Rolle der Kirche in der Politik in Frankreich ist extrem geschwächt ist oder gar nicht vorhanden, was natürlich an der Tradition hängt, an der Französischen Revolution, am Konflikt vom Anfang des 20. Jahrhunderts, in dem gesetzmäßig festgelegt wurde, dass die Kirche sich aus politischen Konflikten und dem öffentlichen Raum herauszuhalten hat. Von daher kann sie hier kaum eine Rolle einnehmen.

Und abgesehen davon muss man natürlich auch sagen, dass die Bevölkerung, die derzeit rebelliert, hauptsächlich aus dem muslimischen Kulturbereich eingewandert ist. Das ist ein weiterer Grund dafür, dass die Kirche kaum eine Chance hat eine vermittelnde Rolle einzunehmen. Dafür sehe ich auch keinen Ansatzpunkt.

Das Interview führte Jan Hendrik Stens.

Quelle:
DR