DOMRADIO.DE: Der Kölner Erzbischof und die von ihm initiierte "Aktion Neue Nachbarn" beteiligen sich an der "Woche zur katholischen Flüchtlingshilfe", zu der die Deutsche Bischofskonferenz aufgerufen hat. Vom 28. September bis 5. Oktober werden täglich Aktivitäten rund um die katholische Flüchtlingshilfe sichtbar gemacht. Seit 2014 läuft die Flüchtlingshilfe im Erzbistum als Initiative "Aktion Neue Nachbarn". Was ist seitdem anders geworden?
Irene Porsch (Flüchtlingsbeauftragte der Caritas im Erzbistum Köln): Seit 2014 vernetzen wir über die "Aktion Neue Nachbarn" all das miteinander, was es an professioneller Flüchtlingshilfe und an wertvollem Engagement von Ehrenamtlichen und Engagierten vor Ort in Willkommensinitiativen, Kirchengemeinden und Verbänden gibt. Dieses Gemeinsame führt dazu, dass Menschen hier nicht nur willkommen geheißen werden, sondern gleich bei ihrer Ankunft einerseits professionelle Unterstützung durch Caritas und Fachverbände erfahren. Andererseits erleichtern wir ihnen über Ehrenamtliche, wirklich in ihrem Stadtviertel, in der Sprache und der Kultur in Deutschland anzukommen. Wir helfen ihnen dabei, wirklich neue Nachbarn und neue Nachbarinnen zu werden.
DOMRADIO.DE: Wie funktioniert die "Aktion Neue Nachbarn" genau?
Porsch: Wir versuchen, möglichst viel zu ermöglichen. Die "Aktion Neue Nachbarn" funktioniert, indem wir sogenannte feste Arbeitspakete anbieten, indem wir Sprachkurse für Geflüchtete fördern, genauso auch ehrenamtliche Qualifizierungsangebote und zum Beispiel Programme wie Jobpatenschaften. Die "Aktion Neue Nachbarn" ist auch eine Anlaufstelle für kreative Ideen. Wenn Leute kommen und in der Flüchtlingshilfe neue Wege gehen wollen, können wir sie mit einer Anfangsfinanzierung erst ermöglichen und dann inhaltlich und fachlich begleiten.
DOMRADIO.DE: Als der Kölner Erzbischof 2014 die "Aktion Neue Nachbarn" ins Leben rief, ging es in erster Linie um Bootsflüchtlinge, die übers Mittelmeer kamen. Im so genannten Flüchtlingssommer 2015 kamen dann sehr viele Menschen über die Balkanroute. Wie hat dieser Sommer die Arbeit für Geflüchtete verändert?
Porsch: Dieser Sommer hat unsere Arbeit insofern verändert, als wir damals die Idee konkret aufgegriffen haben, die Kardinal Woelki schon 2014 in seinem Hirtenbrief formuliert hatte. Dass nämlich aus Fremden wirklich Freunde werden, dass wir wirklich eine Aufnahme- und Willkommensgesellschaft sein können. Das haben wir 2015 gezeigt und das zeigen wir seitdem immer wieder, auch wenn es an verschiedenen Stellen politisch hinterfragt wird.
Das ist in meine Augen der der große Verdienst der "Aktion Neue Nachbarn": Dass wir, als so viele Menschen zu uns kamen, gezeigt haben, dass Ehrenamtliche und Hauptberufliche zusammen enorm viel möglich machen konnten. Und genau diese Menschen, die 2015 hier angekommen sind, engagieren sich heute selbst ehrenamtlich. Sie sagen: "Was damals passiert ist, was damals für mich möglich wurde, macht mich heute zu jemanden, der in Deutschland die Zivilgesellschaft und die Demokratie stärken möchte."
DOMRADIO.DE: Als Putin 2023 die Ukraine überfallen hat, sind sehr viele Menschen geflohen und sehr viele auch nach Deutschland gekommen. Wie haben die katholischen Flüchtlingshelferinnen und -helfer in Köln diese neue Herausforderung gestemmt?
Porsch: Ganz beeindruckend und hervorragend! Was auch daran lag, dass die Strukturen zur Unterstützung und Vernetzung der ehrenamtlichen und der hauptamtlichen Flüchtlingshilfe, die wir seit 2014/15 aufgebaut hatten, sofort gegriffen haben. Innerhalb kürzester Zeit gab es hier im Erzbistum 22 Willkommenscafés, wo ehrenamtliche und professionelle Kräfte aus der Migrationsarbeit Anlaufstellen geschaffen haben für die ukrainischen Geflüchteten. Sie haben ihn gezeigt, an welche Stellen sie sich wenden und wo sie eine Unterkunft finden konnten. Sie haben erklärt, worauf es in den nächsten Wochen ankam. Das war sicher auch durch den Marathon 2015 möglich geworden, durch den Flüchtlingssommer und all das, was daraus entstanden ist.
DOMRADIO.DE: In diesem Sommer war es zehn Jahre her, dass Angela Merkel ihren berühmten Satz "Wir schaffen das!" gesagt hat. Was haben Sie aus Ihrer Perspektive geschafft?
Porsch: Wir haben geschafft, dass 2015 über eine Million Menschen hier angekommen und viele von geblieben sind und Deutschland heute als ihre neue Heimat sehen. Und wir haben geschafft, dass sie ziemlich gut am Arbeitsmarkt integriert sind, ganz ähnlich nämlich wie Menschen ohne Migrationshintergrund. Ehrlicherweise retten sie unsere Rentenkassen. Ich sage manchmal: "Wir schaffen das nicht ohne! Wir schaffen es nicht ohne Zuwanderung in Deutschland!" Und diese Menschen, die 2015/16 gekommen sind, haben durch die "Aktion Neue Nachbarn" und viele andere wertvolle Initiativen Perspektiven und Bleibemöglichkeiten entwickelt, sie haben sich in den Arbeitsmarkt integriert
DOMRADIO.DE: Und was müssen wir noch schaffen?
Porsch: Wir müssen wieder mehr aufnehmen und mehr Arbeitsintegrationsmöglichkeiten schaffen. Und wir müssen weniger Energien und Zeit in Abgrenzung und Ausweisungen investieren.
DOMRADIO.DE: In den letzten zehn Jahren hat sich die Stimmung im Land gedreht. Die anfängliche Willkommenskultur hat sich längst in eine Art Abwehrkultur verwandelt. Was bedeutet das jetzt für die Geflüchteten und diejenigen, die ihnen helfen?
Porsch: Das ist eine Riesenherausforderung. Viele Geflüchteten entwickeln heute Ängste, was sie lange Zeit nicht mussten. Auch werden Flüchtlingshelfer angegriffen und in Frage gestellt. Trotz rechter Demagogie und Hetze – und auch das ist unsere Erfahrung – merken Menschen aber weiter, wie wichtig und wertvoll es ist, sich über die Flüchtlingshilfe und andere Initiativen für eine demokratische Gesellschaft einzusetzen. Es ist ihnen wichtig, dass sie durch ihr Engagement den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken. An dieser Stelle setzen wir als "Aktion Neue Nachbarn" an und werden es weiter tun.
DOMRADIO.DE: Wo sehen Sie die Rolle der katholischen Kirche in der aktuellen deutschen Debatte um Migration und Asyl, die so viel schärfer geworden ist?
Porsch: Der Auftrag der katholischen Kirche ist und ist es schon immer gewesen, Menschen aufzunehmen, zu schützen, zu fördern und zu integrieren. Das hat Papst Franziskus sehr deutlich gemacht. Und an diesen Punkten wird die katholische Kirche auch zukünftig durchaus auch offen Kritik üben, wenn Politik gegen den Menschen handelt und wenn sie gerade die ärmsten Menschen ausgrenzt. Da ist die Rolle der katholischen Kirche wirklich, den Finger in die Wunde zu legen und sich für Gerechtigkeit und Solidarität einzusetzen.
Das Interview führte Hilde Regeniter.