Kinderschutzbund zur Missbrauchsdebatte

"Starke Kinder erziehen!"

Die aktuelle Debatte um sexuellen Missbrauch dreht sich zu sehr um die Vergangenheit, sagt Kinderschutzbund-Präsident Heinz Hilgers. "Aber zu kurz kommen Zehntausende Kinder, die auch 2010 das selbe Schicksal erleiden werden", kritisiert er gegenüber domradio.de. Auch den geplanten Runden Tisch beurteilt er skeptisch.

 (DR)

domradio: Sind Kinder heute von Missbrauch weniger bedroht?
Hilgers: Nein, das ist so, dass wir auch davon ausgehen - und da sind sich auch die Fachverbände einig -, dass die Zahl der Kinder, die im sozialen Nahbereich, also von ihren Vertrauten und bekannten Personen, sexuell missbraucht werden, auch im Jahre 2010 zwischen 80 und 120 000 Kinder betragen wird. Genaue Zahlen kann man nicht sagen, weil eine hohe Dunkelziffer dabei ist.

domradio: Warum kommen dann nicht mehr aktuelle Fälle an die Öffentlichkeit.
Hilgers: Ja, natürlich ist es so, dass Kinder, die in der eigenen Familie sexuell missbraucht werden, schweigend bleiben und manchmal sich selbst Vorwürfe machen. Zu Unrecht, wie das überhaupt Kinder tun, die Gewalt erleiden in der Familie, da ist eine gehörige Portion Schamgefühl dabei. Und dann kommt natürlich zum Beispiel die Drohung des Vaters, der dann sagt: "Wenn Du das einem erzählst, was ich mit Dir gemacht habe oder mache, dann kommst Du ins Heim und ich ins Gefängnis und die ganze Familie bricht auseinander." Das ist die Drohung, und dann brauchen die Kinder natürlich Menschen, denen sie sich anvertrauen können und denen sie sich auch zuverlässig anvertrauen können.

domradio: Da sind wir auch schon bei den Maßnahmen, die im Moment ergriffen werden. Sie sind ja eher unzufrieden; Sie sagen zum Beispiel: Mit Runden Tischen, wie sie jetzt angekündigt sind, lässt sich das Problem nicht lösen. Warum nicht?
Hilgers: Ja, einmal ist es schon seltsam: Jetzt macht jeder einen Runden Tisch. Angefangen hat es mit vier, jetzt ist man bei drei. Wenn, dann sollten die sich an einen Tisch setzten. Aber ich halte es für eine Selbstverständlichkeit, dass, wenn die Politik neue Gesetzte machen will, sie die Fachöffentlichkeit anhört. Zu glauben, runde Tische seien Lösungen, das ist ein Irrtum.
Was wir brauchen, sind zunächst in der Politik einige wenige Maßnahmen. Ich bin dafür, dass die zivilrechtliche Verjährungsfrist, die ja leider nur drei Jahre beträgt, der strafrechtlichen angepasst wird. Bei der strafrechtlichen rate ich zu Vorsicht, da ist sehr schwierig, eine Angelegenheit im strafrechtlichen Sinne nachzuweisen, die mehr als zwanzig Jahre zurückliegt und dann noch in der eigenen Kindheit stattgefunden hat. Aber der nächste Punkt, der dringend gemacht werden muss, ist, dass die Forderung der vielen Beratungsstellen und Kinderschutzzentren in unserem Land auf eine zuverlässige Grundlage gestellt wird. Zur Zeit ist es eher so, dass gerade diese Einrichtungen, in denen sich Kinder anvertrauen können, mit drastischen weiteren Kürzungen zu rechnen haben, weil die Kommunalhaushalte vielerorts am Ende sind. Das ist natürlich das Gegenteil von dem, was jetzt notwendig ist, denn gerade jetzt ist der Zeitpunkt da, wo mehr Menschen Mut fassen, sich zu ihrem Schicksal zu bekennen.

domradio: Also einmal sind öffentliche Anlaufstellen wichtig, um Kindesmissbrauch zu vermeiden oder zu helfen, wenn er passiert ist. Aber wie sonst könnte man Kindesmissbrauch vorbeugen, auch im Umgang mit Kindern, was muss man denen beibringen?
Hilgers: Wir brauchen natürlich die Kinder. Die typische Täter-Opfer-Relation ist so, dass sich der pädophilie Täter an der Schwäche seines Opfers auch weidet, und sehr starke Kinder werden weniger und nicht so schnell Opfer eines Missbrauchs. Deshalb: Lasst uns starke Kinder erziehen! Und das Zweite ist, dass wir natürlich den Kindern zuhören, sie ernst nehmen. Das ist ganz wichtig - in den Familien aber auch in den Institutionen - da kommt es viel zu oft vor, dass nach einer Diskussion nach einem sexuellen Missbrauch der Lehrer immer noch da ist, aber die Schülerin ist an eine andere Schule versetzt worden. Das sehen natürlich auch andere Schülerinnen. Und die schweigen dann auch weiter und genau da müssen wir das Schweigen dadurch brechen, indem wird den Kindern offen zuhören.
Der letzte Punkt ist: Wir müssen endlich begreifen, dass Kinder nicht unser Eigentum sind, auch nicht das Eigentum ihrer Eltern! Kinder sind Menschen, keine Rechtsobjekte, sondern Rechtssubjekte mit eigener Menschenwürde und mit eigenen Grundrechten. Und es wird höchste Zeit, dass Deutschland sich dazu endlich bekennt und das der Bundestag und der Bundesrat die Rechte der Kinder, wie sie in der UN-Konvention international anerkannt sind, auch ins Grundgesetzt nimmt und damit zu unmittelbarem, deutschem Recht macht. Das ist eine Frage unseres Selbstverständnisses, unseres Leitbildes und unseres Bewusstseins.

Das Gespräch führte Heike Sicconi.