Vor 125 Jahren wurde Entwicklungspsychologe Jean Piaget geboren

Kinder denken anders

Wie lernen Kinder? Wie entwickelt sich ihre Intelligenz? Jean Piaget, der Begründer der Entwicklungspsychologie, hat sich intensiv mit dem kindlichen Denken auseinandergesetzt. Vor 125 Jahren wurde er geboren.

Autor/in:
Nina Schmedding
Spielende Kinder / © Cristian Gennari/Romano Siciliani (KNA)
Spielende Kinder / © Cristian Gennari/Romano Siciliani ( KNA )

Greifen, Krabbeln, Fremdeln, Spielen - vor allen Dingen seine drei eigenen Kinder hat Jean Piaget alltäglich intensiv beobachtet, um der kindlichen Intelligenz auf die Schliche zu kommen. "Alles, was man dem Kinde beibringt, kann es selbst nicht entdecken" ist dabei sein pädagogisches Credo. Vor 125 Jahren - am 9. August 1896 - wurde der Schweizer Entwicklungspsychologe, der sich seine kindliche Neugierde auf die Welt und alles Lebendige in ihr zeitlebens bewahrte, in Neuchatel geboren. "Wenn du kreativ sein willst, lass dich selbst ein Kind sein", so lautete ein Ausspruch.

Wissenschaftler von klein auf

Bekannt wurde der Schweizer Wissenschaftler etwa durch den Gedanken der sogenannten Objektpermanenz: Demnach ist das Wissen um den Weiterbestand von Gegenständen, die aus dem Sichtfeld verschwinden, nicht angeboren, sondern muss im Laufe der kognitiven Entwicklung des heranwachsenden Kindes erst erworben werden. Der Ball, der unter das Sofa gerollt ist, existiert für ein Baby in den ersten Lebensmonaten nicht mehr, sobald er außer Sichtweite ist. Erst ab dem Alter von acht Monaten entwickelt sich die "Objektpermanenz" - das Wissen, das etwas da ist, auch wenn man es gerade nicht sieht.

Erkenntnis durch Beobachten - dies prägte auch Piagets eigenen Lebensweg. So ist er bereits als zehnjähriger Junge Assistent des Direktors des heimischen Museums für Naturgeschichte, veröffentlicht eine wissenschaftliche Abhandlung über den "Albino-Sperling" und spezialisiert sich auf Weichtierkunde - Teichschnecken werden sein Spezialgebiet. Noch im Alter soll er Regenwürmer in der Hosentasche mit sich herumgetragen haben. Mit Anfang 20 ist er bereits promovierter Biologe. Er fasst den Entschluss, sein Leben "der biologischen Erklärung der Erkenntnis zu widmen".

Interessen für Religion, Philosophie und Psychiatrie

Zunächst vertieft er sich in die Religion, in die Philosophie, schließlich in die Psychiatrie. Ihn beschäftigt die Frage, wie sich bei Kindern das Denken entwickelt. Er bekommt den Auftrag, einen Intelligenztest weiterzuentwickeln, beobachtet Kinder beim Spielen und führt zahlreiche Denkexperimente mit ihnen durch.

"Bildung bedeutet für die meisten Menschen, dass sie versuchen, das Kind wie einen für seine Gesellschaft typischen Erwachsenen aussehen zu lassen. Aber für mich sollten Bildungseinrichtungen kleine Schöpfer hervorbringen. Sie müssen die Kinder zu Erfindern, Innovatoren und Nonkonformisten machen", so Piagets Ansatz. Ein Kind sei erkenntnismäßig eben kein kleiner Erwachsener: Erst in eigenständiger Auseinandersetzung mit der Welt bildeten Kinder logische Strukturen aus.

Theorie der Entwicklung des Denkens beim Kind

Auf dieser Grundlage entwickelt Piaget die Theorie der Entwicklung des Denkens beim Kind. Er stellte sich vor, dass diese in aufeinander aufbauenden Stufen abläuft, die das Kind in einem bestimmten Alter erreicht. Erst mit elf Jahren etwa beginne es sich für allgemeine moralische Fragen zu interessieren.

Dass sich Piaget bei seiner Arbeit wie ein Universalgelehrter in allen Forschungsbereichen tummelt - von der Zoologie und der Evolutionstheorie über die Mathematik bis zu Philosophie, Logik und Wissenschaftsgeschichte - bringt ihm bei den einen viel Kritik, bei den anderen das Etikett eines Genies ein. So erhält er 35 Ehrendoktortitel.

Berater für die Unesco

Ab 1945 berät Piaget die Unesco, die Erziehungsorganisation der gerade gegründeten Vereinten Nationen. Herkömmlichen Schulen steht er äußerst kritisch gegenüber. Seiner Ansicht nach kann der Mensch bedeutende Entdeckungen nicht einfach übernehmen, sondern muss allein darauf stoßen. Intelligenz hänge entscheidend von körperlichen Aktivitäten ab, mit denen der Mensch die Umwelt entdeckt; die zwölf ersten Lebensjahre seien dabei die kreativsten. Piaget plädiert deshalb für autonome Schulen, in denen Schüler selbst mitentscheiden können, was sie wann lernen.

Der deutsche Sprachraum entdeckt sein auf Französisch verfasstes Werk erst spät - seine wissenschaftlichen Abhandlungen waren bereits ins Polnische, Türkische, Spanische und Japanische übersetzt worden. Erst in den 1970er Jahren folgte eine deutsche Übersetzung. Am 16. September 1980 stirbt Piaget mit 84 Jahren in Genf.


Quelle:
KNA