Kent Nagano über Bedeutung & Religiosität Olivier Messiaens

"Er war regelrecht Franz von Assisi"

Die Musikwelt erinnert am Mittwoch an den 100. Geburtstag von Olivier Messiaen. Kent Nagano, Generalmusikdirektor der Bayerischen Staatsoper, zählt zu den langjährigen vertrauten Wegbegleitern des 1992 verstorbenen Komponisten.

Autor/in:
Christoph Strack
Kent Nagano: US-amerikanischer Dirigent japanischer Herkunft (KNA)
Kent Nagano: US-amerikanischer Dirigent japanischer Herkunft / ( KNA )

Im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) berichtet Nagano am Montag in München von der beeindruckenden Persönlichkeit Messiaens und dessen tiefer religiöser Prägung.

KNA: Maestro, Sie waren kein Schüler, aber ein Wegbegleiter von Olivier Messiaen. Als sehr junger Dirigent schickten Sie ihm - aus Kalifornien nach Paris - eine Tonbandaufnahme der schwierigen Messiaen-Komposition "Turangalila" und baten den gut 40 Jahre älteren Komponisten um Rat. Wie kam es dazu?

Kent Nagano (Generalmusikdirektor der Bayerischen Staatsoper): Als ich Ende der 70er Jahre mit dem Berkeley Symphonie-Orchester einen Zyklus von Messiaen-Werken aufführen wollte, rätselten wir über Stil-Interpretationen. Nachdem uns in den USA oder Kanada niemand helfen konnte, habe ich mir ein Herz gefasst und direkt ans Pariser Konservatorium, Professor Messiaen, geschrieben. Ich hatte nicht einmal eine genaue Adresse. Als er antwortete, überraschte mich das total. Das war der Beginn einer intensiven Korrespondenz. Er kam bald zu uns an die Westküste der USA. Ihn selbst zu hören, das war ein Moment, der mir schier die Augen geöffnet hat. Dieser Stil, diese Emotion, diese Seele! Danach luden er und seine Frau Yvonne Loriod-Messiaen mich ein, für ein gutes Jahr mit ihnen in Paris in der Wohnung zu leben und die Premiere der Oper "Saint Francois d'Assise" mit vorzubereiten, die 1983 uraufgeführt werden sollte. So kam ich erstmals nach Europa.

Franz von Assisi

Kaum ein Heiliger hat bis heute eine solche Anerkennung gefunden wie er. Franziskus wird unter anderem als Patron der Armen, Blinden und Lahmen verehrt. Zudem ist er Patron der Strafgefangenen, Sozialarbeiter und Schiffbrüchigen. Außerdem dient er als Vermittler zwischen den unterschiedlichen Religionen. Papst Johannes Paul II.erklärte ihn 1980 zudem zum Patron des Umweltschutzes und der Ökologie.

Der Heilige Franz von Assisi (KNA)
Der Heilige Franz von Assisi / ( KNA )

Das wurde eine unglaublich intensive Zeit. So wie mich hat er viele junge Künstler warmherzig begleitet. Eigentlich kann sich eine ganze Generation von Musikern bei Messiaen bedanken.

KNA: Was hat Sie zu diesem ersten Kontakt ermutigt?

Nagano: Olivier Messiaen war ja nicht nur Komponist, sondern auch Lehrer, Professor. Schon ein Blick auf seine erste berühmte Klasse der 40er Jahre mit Pierre Boulez, Karl-Heinz Stockhausen oder Iannis Xenakis zeigt, dass sein Einfluss als Lehrer mindestens so groß war wie der als Komponist. Er war wie ein Leuchtturm, wie eine große Tür zur Musikgeschichte. Für einen Amerikaner wie mich bot er die Chance, tief in die europäische Tradition einzudringen.

KNA: Wie haben Sie ihn als Menschen erlebt?

Nagano: Manche Biografien beschreiben ihn als mystischen, als religiösen Philosophen. Das stimmt so nicht. Er war sehr, sehr ernst, dabei aber ganz klar. Er war tiefgläubig und zugleich sehr sensibel, ja voller Demut. Er war unglaublich geduldig und hatte einen wunderbaren Sinn für Humor. Dieser Humor war so leicht und fragil, dass er schon fast wieder Kunst war. Nicht flach wie heutige Fernsehunterhaltung.

KNA: In Paris ging es um die Vorarbeiten zur Uraufführung von "Saint Francois d'Assise", der einzigen Oper Messiaens. Er hebt dabei nicht den Sozialkritiker Franz von Assisi heraus, sondern zeigt den Heiligen als Naturverbundenen, als Versöhner mit der Natur. Passt es dazu, dass Messiaen in kaum vorstellbarer Weise mit Vogelstimmen vertraut war und arbeitete?

Nagano: Messiaen hat oft gesagt, dass er sich persönlich mit Franz von Assisi identifizierte. Er war regelrecht Franz von Assisi. Es ging ihm darum, die Beziehung von Gesellschaft und Natur und die Spannung zwischen beiden zu verdeutlichen. Dieser Beziehung wollte er eine Resonanz geben. Messiaen wollte dem Menschen diese Spannung naturnah vermitteln, aber eben - und das ist wichtig - doch abstrakt.

KNA: Seine vertraute Kenntnis der Vogelstimmen ist aber doch sehr berühmt.

Nagano: Aber manchmal ist es geradezu lächerlich, wie Vogelkundler echten Vogelgesang mit der Auslegung Messiaens zu vergleichen suchen. Ein kleines Beispiel dafür, welche tiefe Kenntnis er hatte: Eines Abends diskutierte ich mit seiner Frau darüber, wie man einen kleinen Vogel, der nur in Neukaledonien zu finden ist und doch in einem seiner Werke auftaucht, die Gerygone, am Klavier interpretieren sollte. Wir stritten fast - zehn Minuten lang. Der Maitre hörte sich das an, dann lachte er, holte ein großes Tonbandgerät und sagte: Hier ist eine echte Gerygone. Ein toller Klang, drei, vier Oktaven höher, als man auf dem Klavier spielen kann. Ein Klang geradezu ohne Schwerkraft. Vielleicht hat Messiaen den Vogel deshalb als Leitmotiv für den Engel genommen. Trotzdem: Sein Arbeiten mit solchen Klängen und deren Herkunft und assoziativen Hintergrund ging weit über die konkreten Vogelstimmen hinaus.

KNA: Auch 1983 war Messiaen Organist an der Pariser Kirche Sainte-Trinite. Wie wichtig war für ihn sein Glauben? Sie als Protestant von der Westküste, er war Katholik im alten Europa...

Nagano: Die 20 Jahre, die wir miteinander gearbeitet und unsere Beziehung vertieft haben, haben uns stark und für immer verbunden. Aber wir haben - aus Respekt - niemals dieses Thema direkt angesprochen. In "Transfiguration" zitiert er häufig Thomas von Aquin. Das ist wunderbare Mystik und religiöse Tradition. Ich wollte mit ihm darüber reden, aber er war da sehr zurückhaltend. Er wollte dieses Thema nicht in den Vordergrund stellen. Das war eine tiefe Bescheidenheit. An vielen Sonntagen war ich mit ihm in Sainte-Trinite, oft zu zwei Messen. Häufig auch unter der Woche, weil er sehr regelmäßig übte. Bei diesen langen Zeiten in Trinite habe ich, ohne dass wir oft geredet hätten, viel gelernt. Und vielleicht am beeindruckendsten war es, in dieser Kirche seine Improvisationen zu hören.

KNA: Er war ein sehr gläubiger Katholik und blieb doch bei dieser Zurückhaltung.

Nagano: In jedem seiner Meisterkurse, die ich miterlebt habe, stellte irgendwann ein Teilnehmer diese Frage: Muss man gläubig sein, um diese Musik zu schreiben, um sie zu verstehen? Er sagte, dass es dazu gewiss verschiedene Antworten geben könne. Vor allem aber erwiderte er: Würden Sie das einen Johann Sebastian Bach fragen? Der Vergleich passt. Und er sagt alles.

KNA: Was kann eine nachwachsende Generation von ihm lernen?

Nagano: Er hat vorgelebt, dass man immer lernen kann aus dem Kontext, in dem man lebt. Da war er stets wach, aufmerksam, bereit, etwas neu zu lernen. Messiaens Musik hat eine organische natürliche Balance. Er hat jeden Ton gehört. Das lag in seiner Person begründet. Und es wirkt nach. Viele jüngere Komponisten verweisen auf "Saint Francois d'Assise", diese einzige Oper Messiaens, wenn sie erläutern sollen, warum sie Opern schreiben. Messiaen hat gezeigt, dass Oper nicht Spektakel sein muss. Er hat gezeigt, dass Oper eine Zukunft hat.

KNA: Wird Messiaen erst noch entdeckt?

Nagano: Das kann letztlich niemand definitiv sagen. Aber klar ist: Viele seiner Werke haben heute schon ihren Platz im Repertoire der Musiker. Es ist keine Ausnahme mehr, seine Turangalila-Sinfonie zu spielen, mit der wir damals in Berkeley so gekämpft haben. Kürzlich habe ich erstaunt in einem Plattenregal ein knappes Dutzend aktueller Einspielungen von Werken Messiaens gesehen. Das sagt sehr viel aus. Die Inspiration für die nächste Generation ist also da.

Ich glaube, seine Musik wird weiter entdeckt werden. Das 21. Jahrhundert ist noch jung. Aber der Blick zurück wird allmählich klarer. Im 20. Jahrhundert gab es viele Musiker, viele Namen. Wir sehen jetzt, welche Musik überlebt und Teil des Repertoires wird, in dem unsere Traditionen fortleben. Messiaen hat Eingang in dieses Repertoire gefunden, und er wird dort bleiben.

Quelle:
KNA