DOMRADIO.DE: Hat sich die Lage in Vietnam jetzt beruhigt? Ist das Wetter jetzt stabil?
Christine Wegner-Schneider (Länderreferentin für Vietnam bei Caritas International): Nein, das kann man keineswegs sagen. Nach bisher vier Wirbelstürmen seit Anfang Oktober steht jetzt mit ziemlicher Sicherheit der fünfte vor der Tür. Es gibt die Prognose, dass der Wirbelsturm "Goni", so der internationale Name, wahrscheinlich übermorgen, am 4. November, an Vietnam anlanden soll.
DOMRADIO.DE: Kann das Wasser denn bis dahin abfließen?
Wegner-Schneider: Im Moment ist da keine Besserung in Sicht. Der nächste Sturm steht an. Starkregen vom vorhergehenden Sturm gehen noch nieder. Die neun Provinzen, die davon betroffen sind, haben einen ganz schmalen Küstenstreifen, der auf Meeresniveau liegt. Da ist es dann schwierig, dass das Wasser abfließen kann. Das braucht seine Zeit. Wenn jetzt die Stürme auch noch die Meeresfluten ins Land hineindrücken, dann ist es ganz schwer, ein Ende der Überschwemmungen abzusehen.
DOMRADIO.DE: Viele Menschen sind ums Leben gekommen. Zehntausende sind obdachlos geworden. Wie sieht die Lage vor Ort aus?
Wegner-Schneider: Es sind mittlerweile über 200 Menschen umgekommen. Viele sind vermisst, viele haben ihr Hab und Gut verloren. Hunderttausende Häuser wurden weggeschwemmt, sind zerstört. Viele sind obdachlos. 375.000 Menschen - das ist die Zahl, die ich momentan habe - sind evakuiert worden und in einer provisorischen Evakuierungszone untergebracht. Die Aussichten im Moment sind düster.
Nach der ersten Sicherung des Überlebens müssen jetzt über Monate hinweg Maßnahmen zum Wiederaufbau der Häuser, zur Wiederherstellung von Lebensgrundlagen, zu Existenzneugründungen erfolgen.
DOMRADIO.DE: Und auch die Stromversorgung ist in weiten Teilen des Landes zusammengebrochen, oder?
Wegner-Schneider: In vielen Teilen Zentralvietnams ist die Stromversorgung zusammengebrochen. Das erschwert die notwendige Kommunikation für die Koordination der Hilfen. Außerdem sind hunderte Kilometer von Straßen - Nationalstraßen und lokale, ländliche Straßen - nicht passierbar und unterspült. Der Weg für Rettungsteams ist dort, wo die Wasser hochstehen, fast nur per Boot möglich. Viele Menschen, die noch vermisst sind - vor allen Dingen auch im gebirgigen Hinterland, wo es die Erdrutsche gab - müssen noch gesucht und geborgen werden.
DOMRADIO.DE: Wie können Sie angesichts dieses wirklich schlimmen Szenarios helfen? Wie organisieren Sie Ihre Nothilfe?
Wegner-Schneider: Caritas International hilft durch lokale Partner: Wir unterstützen die Hilfsmaßnahmen unserer lokalen Partner. Das sind konkret die Caritas Vietnam, die nationale Caritas, und die Caritasstellen der betroffenen vier Diözesen in Zentralvietnam: Huế, Hà Tĩnh, Qui Nhơn, Đà Nẵng. Die fünf am schwersten betroffenen von neun Provinzen gehören zu diesen Diözesen.
Im ersten Anlauf gibt es lokale sogenannte "Coping Mechanisms". Die haben schon vor vielen Tagen gegriffen. Da wurden aus dem ganzen Land, von vielen anderen Caritas-Stellen im Norden und Süden Nahrungsmittel, Kleidung, Trinkwasser in die zentralen Diözesen geschickt. Viele freiwillige Helfer in den betroffenen Diözesen auf Gemeindecaritas-Ebene sind als mobile Rettungsteams unterwegs und versorgen mit Hilfsmitteln. Dazu gehören auch Medikamente, Hygieneartikel und Materialien für provisorische Shelter. Da gibt es ganz, ganz viele lokale Initiativen. Aber die Mittel sind begrenzt. Es werden deutlich mehr Mittel benötigt und auch Spenden von extern.
DOMRADIO.DE: Sehen Sie die Stürme auch als Folge des weltweiten Klimawandels?
Wegner-Schneider: Auf jeden Fall. Laut vieler unabhängiger Experten ist es so, dass die Häufigkeit und Intensität der Extremereignisse zugenommen haben. Vietnam ist jetzt und in Zukunft eines der am schwersten betroffenen Länder. Das ist augenfällig, nachdem vier Zyklone innerhalb kürzester Zeit in Vietnam angelandet sind und demnächst sogar ein Monstersturm bevorsteht.
DOMRADIO.DE: Was müsste passieren, um Vietnam langfristig besser vor solchen Katastrophen zu schützen?
Wegner-Schneider: Da gibt es verschiedene Vorschläge: Zum einen eine unmittelbar verstärkte Anpassung an den Klimawandel, der ja da ist und den man im Moment so nicht abwenden kann. Man bräuchte verbesserte Frühwarn- und Evakuierungs-Infrastrukturen, die schneller und effizienter erreichbar ist. Man müsste mehr in Umweltschutz, Waldpflege und Aufforstungen investieren, damit die Wasser in den Gebirgsregionen besser zurückgehalten werden und auch gleichzeitig CO2 reduziert wird.
Man könnte an Umsiedlungen denken: weg von den unsicheren Küsten. Das ist aber eine sehr aufwendige, kostspielige Sache. Mangrovenprojekte, die es schon gibt, müssten verstärkt werden. Es gibt eine ganze Palette von Maßnahmen, die mittel- bis langfristig ins Auge gefasst werden könnten.
Das Interview führte Hilde Regeniter.