DOMRADIO.DE: Sie veranstalten am 18. November einen Hochschultag im Fachbereich Gesundheitswesen? An wen richtet sich der Tag der offenen Tür?
Prof. Oliver Tiemann (Professor für Gesundheitsökonomie an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen): An Studieninteressierte, die in der Regel schon Berufserfahrung haben und ein akademisches Aufbaustudio machen wollen, um sich neue Perspektiven zu eröffnen.
DOMRADIO.DE: Wer in der Pflege arbeitet und lieber Büroorganisationen machen will, statt in Schichtarbeit Patienten zu betreuen, kann sich über Angebote informieren?
Tiemann: Ja, das kann eine Perspektive sein. Das wäre beispielsweise in den beiden Studienprogrammen, die ich auch verantworte, möglich, dass ich über die Qualifikation Bachelor, Master oder Pflegemanagement Leitungsaufgaben in den verschiedenen Versorgungsbereichen wahrnehme. Wir haben auch pflegepädagogische Studiengänge. Das ist für Personen, die eine Berufsqualifizierung haben und anstreben, als Fachlehrerinnen in den Pflegeschulen zu arbeiten, um den pflegerischen Nachwuchs von morgen auszubilden.
DOMRADIO.DE: Wie akut ist der Pflegenotstand?
Tiemann: Wir sind mittendrin. Es gibt ein Spannungsverhältnis: Auf der einen Seite der wachsende Bedarf, medizinisch-pflegerische Leistungen in Anspruch zu nehmen. Auf der anderen Seite die Herausforderungen auf der Angebotsseite, die Fachkräfte zu gewinnen, die diesen Dienst ausüben können. Das ist etwas, was sich in Zukunft noch weiter verschärft und sich regional und lokal sehr unterschiedlich vollzieht.
Auf der einen Seite gibt es die Bevölkerung, die altert und diesen zusätzlichen Bedarf entwickelt. Man vergisst dabei häufig, dass bei den Fachkräften die Demografie auch zuschlägt. Wir haben diesen Ersatzbedarf bei den Fachkräften, der gedeckt werden muss. Das Positivszenario ist, dass es in manchen Räumen und Einzugsgebieten gelingen wird, den Ersatzbedarf der Fachkräfte, die in den wohl verdienten Ruhestand gehen, zu decken. In anderen wird die Schere tendenziell größer, und die Herausforderungen sind damit auch größer.
DOMRADIO.DE: Was bedeutet das für die Absolventinnen und Absolventen Ihrer Hochschule. Wie sieht es mit Stellen aus?
Tiemann: Wir haben in der Pflege Vollbeschäftigung. Wir haben keine Arbeitsmarktreserve, was gut ist für die Personen, die sich hier beruflich engagieren. Sie haben eine hohe Job-Sicherheit. Auf der anderen Seite ist es eine Herausforderung für die Studierenden im Pflegemanagement, Arbeitsbedingungen mitzugestalten, die so attraktiv sind, dass man Mitarbeitende binden kann. Das wird auch beim Hochschultag in der Praxis-Diskussion ein Thema sein.
Auch die Frage der Reaktivierung und Rückgewinnung wird diskutiert. Es gibt 50 Prozent der Pflegefachkräfte, die unter diesen Bedingungen sagen, sie können nur in Teilzeit arbeiten – manche auch aus familiären, persönlichen Gründen. Aber dann müssen Arbeitsbedingungen gestaltet werden, die so attraktiv sind, dass Mitarbeitende in diesem Beruf verbleiben und gegebenenfalls auch – je nach Lebensphase – möglichst in Vollzeit zur Verfügung stehen.
DOMRADIO.DE: Was macht die Ausbildung bei Ihnen katholisch?
Tiemann: Das, was die besondere Prägung ausmacht, ist die ethisch-moralische Perspektive, aus dem christlichen Menschenbild auf die Besonderheiten der Gesundheitsversorgung zu schauen. Dieser Dienst von Menschen am Menschen, dieses besondere Charisma wird in den Blick genommen.
Wir haben bei den Fachkräften wie auch bei den Patienten oder Bewohnern in der Langzeitpflege einen hohen Migrationshintergrund. Wir versuchen, die interkulturelle und religiöse Kompetenz bewusst zu stärken, um eine gemeinsame Wertebasis zu schaffen. Natürlich aus einer christlichen Perspektive, aber auch aus einer interkulturellen, religiösen Perspektive.
DOMRADIO.DE: Ein Thema auf Ihrer Veranstaltung lautet "Jenseits des Obstkorbes - was wirklich bindet". Was ist damit gemeint?
Tiemann: Unter Corona-Bedingungen hat damals eine Symbolpolitik angefangen. Es gab Angebote wie kostenloses Wasser und einen Obstkorb für die Pausen, nach dem Motto "bleibt gesund". Aber die Motivation, sich in diesem sehr intensiven, auch intimen Betreuungs- und Arbeitsverhältnis in der Patientenversorgung, in der Langzeitpflege zu engagieren, braucht mehr als solche Maßnahmen: Zum einen eine gemeinsame Werteorientierung, die ich teile. Auf der anderen Seite konkrete, praktische Maßnahmen, was die Arbeitszeiten angeht. Diese müssen deutlich flexibilisiert werden, um die Vereinbarkeit von privater Lebensführung und Beruf zusammenzubringen. Verlässliche Arbeitszeichen, wie auch Freizeiten, sind ein ganz wichtiges Thema und andere Maßnahmen, die die positiven Arbeitsbedingungen befördern.
Das Interview führte Dagmar Peters.