Kardinal Woelki zu den Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen vor 20 Jahren

Der rassistische Mob der Straße

Vor 20 Jahren ereigneten sich im Rostocker Stadtteil Lichtenhagen die schlimmsten fremdenfeindlichen Ausschreitungen der deutschen Nachkriegsgeschichte. 150 Menschen gerieten dabei in akute Lebensgefahr. "Was damals geschehen ist, ist einer demokratischen Gesellschaft nicht würdig", unterstreicht Kardinal Rainer Maria Woelki.

Autor/in:
Anke Lübbert
 (DR)

Perspektivlosigkeit als Auslöser?

Die Taten von damals seien nicht zu entschuldigen, doch könne eine Perspektivlosigkeit ein Auslöser gewesen sein, so der Erzbischof von Berlin bei einem Besuch in Schwerin. Daraus müsse man für heute lernen, sagte Woelki auch mit Blick auf die im Schweriner Landtag vertretene NPD: "Billige Argumente einer solchen Partei können natürlich verlockend für die Menschen sein. Das hatten wir schon mal in den 1930er Jahren", so der Kardinal. Er könne nur hoffen, "dass wir aus den bitteren Erfahrungen dieser Zeit lernen und diesen Rattenfängern nicht auf den Leim gehen".



Man müsse den Menschen Perspektiven bieten, forderte Woelki weiter. Er habe Mecklenburg-Vorpommern als ein weltoffenes, liberales Land erlebt. Dass sich die Kirchen an Protestaktionen gegen Rechtsextreme beteiligen, zähle zu ihren ureigenen Aufgaben, betonte der Kardinal. Die Kirchen seien überall dort gefordert, wo das christliche Menschenbild, wonach jeder die gleiche Würde hat, angegriffen sei.



Lob für Kirchen in Mecklenburg-Vorpommern

Die Schweriner Landtagspräsidentin Sylvia Bretschneider lobte das Engagement der Kirchen in der landesweiten Initiative "WIR. Erfolg braucht Vielfalt" gegen rechtsextremistische Tendenzen. Auch Justizministerin Uta-Maria Kuder (CDU) dankte den Kirchen für ihren Einsatz "gegen die Brunnenvergifter der Gesellschaft". Der Beitrag der katholischen Kirche in der Gefangenenseelsorge und dem Bildungswesen seien besonders hervorzuheben. Vor allem die drei katholischen Schulen in Rostock, Ludwigslust und Schwerin seien "eine Erfolgsgeschichte", so Kuder.



Bundespräsident Gauck appelliert an die Deutschen, dem Rechtsextremismus ohne Furcht entgegen zu treten. "Wir schenken Rechtsextremisten nicht unsere Angst, wir lassen sie nicht gewähren", sagt der Bundespräsident der in Rostock erscheinenden "Ostsee-Zeitung". Die Flüchtlingshilfsorganisation Pro Asyl mahnt Änderungen im Asylrecht an. Der Rostocker Migrantenrat kritisiert indes, dass es noch keine Gedenktafel, kein Denkmal und kein Museum gibt, das an die Ereignisse in Rostock-Lichtenhagen erinnert.



Gauck: Viele seien anfällig für einfache Wahrheiten gewesen

Gauck besucht am Sonntag die Gedenkveranstaltung anlässlich des Jahrestages in Rostock. Er wolle "zeigen, dass wir in Deutschland auch wirklich eine Kultur der Abwehr des Extremismus trainiert haben und dass wir da weiter aktiv bleiben wollen". Als Ursache für die Ausschreitungen sieht Gauck unter anderem das damalige Fehlen einer offenen Bürgerdebatte in Ostdeutschland. Anfang der 90er Jahre seien viele Menschen im Osten ohne Arbeit und orientierungslos gewesen. Ein Teil von ihnen sei anfällig für einfache Wahrheiten und für Schwarz-Weiß-Denken gewesen.



Die Flüchtlingshilfsorganisation Pro Asyl fordert unterdessen eine Umkehr in der Asylpolitik. Pro Asyl erinnert daran, dass nach den Ausschreitungen das deutsche Asylrecht verschärft worden war. "Das Rostocker Pogrom steht bis heute für das Zusammenwirken von Politik und dem rassistischen, gewalttätigen Mob der Straße", erklärt die Organisation. Seither solle die Drittstaatenregelung Schutzsuchende von Deutschland fernhalten.



Ausländerbeauftragter über den Ausnahmezustand im Sonnenblumenhaus

Insgesamt 18 Jahre lang war Wolfgang Richter Ausländerbeauftragter von Rostock. Ob er das Amt auch ohne die schweren Ausschreitungen vom August 1992 im Stadtteil Lichtenhagen über einen so langen Zeitraum ausgeübt hätte, ist schwer zu sagen.

"Wahrscheinlich eher nicht", meint er selbst. Doch in jenen Stunden in Lebensgefahr gab es einen Moment des Innehaltens, in dem sich Richter zwei Versprechen gab.



In der Nacht vom 25. auf den 26. August 1992 schaute Richter aus dem Fenster. Ein Jahr vor den Ausschreitungen in Lichtenhagen hatte er sich auf die Stelle des Ausländerbeauftragten beworben. Nun klopften Menschen vor dem Haus Steine aus der Straße, die sie zusammen mit Molotow-Cocktails in die unteren Stockwerke warfen.



Richter hörte Fensterscheiben klirren, hörte die Sprechchöre "Ausländer raus" und die Menge nach jedem Wurf jubeln und klatschen.

Mit ihm steckten 150 Menschen in dem brennenden Haus fest, vor allem vietnamesische Vertragsarbeiter, auch ein Kamerateam des ZDF und Angestellte des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge.



"Pogrom" - ein Wort aus einer anderen Zeit

Wolfgang Richter, ein großer schlanker Mann, damals 36 Jahre alt, hatte Geografie und Geschichte studiert. "Pogrom", das war für ihn ein Wort aus einer anderen Zeit. Nun steckte er mitten drin in den wohl schlimmsten fremdenfeindlichen Ausschreitungen der deutschen Nachkriegsgeschichte. Drei Nächte verbrachte er im Ausnahmezustand im "Sonnenblumenhaus", einem großen Plattenbau aus DDR-Zeiten.



In der Nacht auf den 26. August stand Richter am Fenster, unten die Gewalt und das Feuer, oben die hektische Betriebsamkeit der Eingeschlossenen. Richter nahm sich zwei Versprechen ab: "Ich habe mir damals geschworen, alles dafür zu tun, dass die politischen Handlungsträger zur Verantwortung gezogen werden, wenn ich hier wieder lebend rauskommen sollte. Und ich habe beschlossen weiterzumachen, dem Mob auf der Straße diese Stadt nicht und auch nicht dieses Land zu überlassen."



Zusammen mit einer Handvoll anderer Eingeschlossener schaffte es Richter irgendwie, die unteren Stockwerke zu verbarrikadieren und einen Ausweg über das Dach des Hauses zu finden. Die 150 Menschen konnten sich über das Dach in einen anderen Hausaufgang retten. Die Stunden in dem brennenden Haus, der Jubel - während gleichzeitig Menschen um ihr Leben kämpften - sei eine Zäsur gewesen, sagt Richter. Das Erlebnis habe ihn geprägt und die Zeit in ein Davor und ein Danach geteilt.



Sich einen neuen Job zu suchen, kam für ihn jedoch nicht infrage. Er verlegte den Schwerpunkt seines Aufgabenbereichs hin zu

Koordinierungs- und Managementaufgaben, förderte die Entwicklung von Migrantenvertretungen und schuf stadtteilbezogene Beratungsangebote. Seine Ideen fanden bundesweites Interesse.



Richter wandte sich nach den Ausschreitungen an Ministerien

Die Momente im Sonnenblumenhaus, so tragisch sie waren, seien für das Erreichen seiner Ziele als Ausländerbeauftragter vielleicht auch hilfreich gewesen, sagt Richter. Er könne nicht ausschließen, dass er durch die Ausschreitungen Zugänge in Ministerien der Landesregierung, zu Staatssekretären und Ministern bekommen habe, man ihm das eine oder andere Mal ein bisschen länger und besser zuhörte.



Arno Pöker (SPD), Rostocker Oberbürgermeister zwischen 1995 und 2004, relativiert diese Einschätzung. "Die Lichtenhagen-Karte hat Wolfgang Richter nie gespielt", sagt er, "das hatte er gar nicht nötig". Für ihn ist Richter ein Mann mit einer klaren Vision, der genau gewusst habe, was er wollte, "verlässlich, sehr verantwortungsvoll, hochpolitisch".



20 Jahre später hat Wolfgang Richter ein neues Büro in der Rostocker Innenstadt bezogen. Seit Januar 2010 ist er Bereichsleiter der Rostocker Gesellschaft für Gesundheit und Pädagogik. Richter hatte das Bedürfnis noch einmal neu anzufangen, eine neue Aufgabe anzunehmen. Der ausgebildete Lehrer hat jetzt wieder mehr mit Pädagogik als mit Migration zu tun. Aber an der Wand hängt immer noch ein Interkultureller Kalender.



Hintergrund



Vom 22. bis zum 26. August 1992 ereigneten sich im Rostocker Stadtteil Lichtenhagen die schlimmsten fremdenfeindlichen Ausschreitungen der deutschen Nachkriegsgeschichte. Im Verlaufe der vier Tage gerieten dabei 150 Menschen in akute Lebensgefahr. Die Gewalt, die sich durch Parolen, Sprechchöre, Steine und schließlich Brandbomben ausdrückte, richtete sich vor allem gegen Roma und Sinti, die sich in der völlig ueberfüllten Zentralen Aufnahmestelle für Asylbewerber befanden. Nachdem die Asylbewerber umquartiert waren, setzten Gewalttäter das benachbarte Wohnheim für Vietnamesen in Brand sowie gegen Wohnungen von vietnamesischen Vertragsarbeitern. Zu den Tätern gehörten Neonazis aus ganz Deutschland. Die Krawalle einiger hundert Gewalttätiger wurden durch etwa 2.000 bis 3.000 Sympathisanten und Schaulustige vor Ort unterstützt.



Die Aufnahmestelle im Rostocker Stadtteil Lichtenhagen war in dem sogenannten Sonnenblumenhaus untergebracht, einem großen Plattenbau aus DDR-Zeiten. Obwohl es der Polizei drei Tage lang nicht gelang, die Krawalle zu beenden, zog sie sich am Abend des 26. August zurück. Die in dem Haus verbliebenen Menschen - vietnamesische Vertragsarbeiter, ein Fernsehteam des ZDF sowie Mitarbeiter des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge - drohten an Rauchvergiftung oder durch das in den unteren Stockwerken entstandene Feuer zu sterben. Die Flucht über das Dach in einen anderen Hausaufgang rettete ihnen schließlich das Leben.



Die Ausschreitungen im August 1992 hatten eine längere Vorgeschichte. Über Monate hatten sich die Spannungen vor Ort verschärft. Der damalige Rostocker Ausländerbeauftragte Wolfgang Richter hatte bereits im Sommer 1991 für Oberbürgermeister Klaus Kilimann (SPD) ein Schreiben an Innenminister Lothar Kupfer (CDU) verfasst. Darin stand unter anderem, dass er in diesem Stadtteil für nichts garantieren könne und auch Tötungsdelikte nicht auszuschließen seien, sollte sich an der Situation vor Ort nicht kurzfristig etwas ändern.



Im Rostocker Stadtteil Lichtenhagen war zur damaligen Zeit ein großer Teil der Bewohner arbeitslos, durch die Wende verunsichert und funktionierender sozialer Strukturen beraubt. Seit Monaten campierten Flüchtlinge, die angeblich wegen Überlastung der Erstaufnahmestelle noch nicht aufgenommen worden waren, auf den Freiflächen zwischen den Hochhäusern.