Kardinal Woelki kritisiert selektive Flüchtlingsauswahl der Slowakei

"Das ist skandalös"

Die Weigerung der Slowakei, muslimische Flüchtlinge aufzunehmen, bezeichnet der Kölner Erzbischof Rainer Maria Kardinal Woelki als "skandalös". Im Interview spricht er auch über seine Forderung nach einem Einwanderungsgesetz für Deutschland.

Kardinal Woelki und Caritas-Präsident Neher / © Oliver Müller (CI)
Kardinal Woelki und Caritas-Präsident Neher / © Oliver Müller ( CI )

domradio.de: Wenn wir hören, dass die Slowakei nur noch christliche Flüchtlinge aufnehmen will, was ist davon zu halten? Kann sich jeder seine Flüchtlinge aussuchen?

Kardinal Woelki: Das ist skandalös, was die Slowakei da macht. Es geht um ein Menschenrecht, es geht um Menschen in Not. Als Christen sind wir verpflichtet, und jedes Staatswesen in Europa ist verpflichtet, Menschen in Not unabhängig von ihrer Hautfarbe, Religion und ethnischer Zugehörigkeit zu helfen. Das ist für einen europäischen Staat nicht hinnehmbar, erst recht nicht unter einem christlichen Gesichtspunkt. Europa muss sich endlich an die eigenen Vereinbarungen halten. Die Anerkennungsrichtlinien, Verfahrensrichtlinien und die Unterbringungsrichtlinien müssen endlich in Kombination mit Dublin III. umgesetzt werden. Europa muss als eine Solidargemeinschaft erfahrbar sein, ansonsten beschädigt man den europäischen Gedanken mehr und mehr. Es kann nicht um ein Europa à la Carte gehen, wo sich der einzelne Staat bestimmte Dinge nach Bellieben aussuchen kann. Es geht um eine große Solidargemeinschaft. Europa wird sonst beschädigt. Die europäische Idee wird beschädigt, wenn sich Staaten wie die Slowakei, oder auch Tschechien und Großbritannien hier ihrer Verantwortung entledigen.

domradio.de: Wie erleben Sie in diesen Tagen den Kosovo und Albanien?

Kardinal Woelki: Ich bin gerade im nördlichen Teil des Kosovos. Dieser ist noch sehr stark gekennzeichnet von den Folgen des Krieges von 1999. Insgesamt erlebe ich den Kosovo aber als ruhig, und ich erlebe ein gutes Miteinander der Religion und Ethnien.

domradio.de: Der Kosovo gilt als sicheres Land. Gestern titelten Zeitungen "Kardinal Woelki für schnelle Abschiebungen". Das heißt, Flüchtlinge aus dem Kosovo sollten in Deutschland kein Asyl erhalten und schnell wieder in das Land zurückkehren, weil es dort sicher ist?

Faire, unvoreingenommene und individuelle Verfahren auch für Balkan-Flüchtlinge

Kardinal Woelki: Ich tue mich schwer mit diesem Begriff. Menschen sollten überhaupt nicht abgeschoben werden. Wir haben alle Verantwortung, insbesondere für Menschen, die in Not sind. Dazu gehören die Menschen, die auf der Flucht sind. Das gebietet unser Glauben. Jesu erstes Schicksal war das eines Flüchtlings. Jeder Flüchtling auf dieser Welt hat das Individualrecht, um Asyl zu bitten. Die Asylsuchenden aus den westlichen Balkanstaaten, über die wir hier reden, müssen heute und in Zukunft faire, unvoreingenommene und individuelle Verfahren erhalten.

Ich kann nur sagen, dass ich hier Albanien und den Kosovo so erlebt habe, dass hier in der Regel Menschen in Sicherheit leben und in der Regel politisch nicht verfolgt werden. Aber das schließt nicht aus, dass es einzelne Minderheiten gibt, wo das doch der Fall ist. Insofern ist der Begriff "schnelle Abschiebung" schwierig und darf nicht pauschalisiert werden.

Ich erinnere hier an die Roma. Unsere Caritas-Projekte bemühen sich sehr stark um eine Integration und um Hilfen für die Roma. Was klar sein muss, ist, dass wir auf jeden Fall Menschen, die in Not sind, die politisch verfolgt werden, die unter Krieg und Terror zu leiden haben, eine Hilfe und Aufnahme bieten. Dass sie in einer Willkommenskultur bei uns Aufnahme finden, das ist selbstverständlich. Auf der anderen Seite muss man auch sehen, dass viele Menschen aus diesen Ländern hier auch zu uns kommen, weil sie hier keine guten Lebensbedingungen haben. Und das finde ich völlig in Ordnung, dass sie bessere Lebensbedingungen suchen. Deshalb ist es eben notwendig, dass es bei uns in Deutschland ein Einwanderungsgesetzt gibt, weil das deutsche Asylrecht kein geeignetes Mittel ist, um die Armut auf dem Balkan zu bekämpfen.

domradio.de: Was kann die Kirche auf dem Balkan tun, dass die Menschen sich in ihrer Heimat wohlfühlen und dort ein menschenwürdiges Leben führen können?

Caritas hilft beim Aufbau einer solidarischen Gesellschaft

Kardinal Woelki: Albanien ist, ähnlich wie der Kosovo, ein landschaftlich schönes Land. Albanien verfügt darüber hinaus über ungeheure Bodenschätze. Es ist eines der wasserreichsten Länder, durch den Bau von Wasserkraftwerken könnte die gesamte Energieversorgung Albaniens gewährleistet werden. Das ist das eine. Dennoch erleben viele Menschen Albanien für sich als perspektivlos, weil einfach die politischen Verhältnisse so sind, wie sie sind. Das Land ist geprägt von einer starken Korruption. Deshalb muss auch seitens der EU Korruption jeglicher Art bekämpft werden. Korruption durchzieht hier nahezu das gesamte Leben, auch das Gesundheitswesen. Wenn ich z.B. in ein Krankenhaus gehe, muss ich ewig warten, muss nicht nur den Arzt bezahlen sondern oft auch noch Geld dazutun, damit ich überhaupt behandelt werde. Es gibt eine Krankenkasse, aber die zahlt nur bei ganz schwerwiegenden Erkrankungen. Es muss also einen Zugang zu einem vernünftigen, allen zugänglichen Gesundheitssystem gewährleistet sein. Wir haben hier einen Vater getroffen, der musste mit seinem schwerkranken Sohn nach Frankreich fahren, um dort die sechs nötigen Operationen durchführen zu lassen. Hier wurde das Kind nicht behandelt! Das ist ein Skandal.

domradio.de: Wie erleben Sie denn die Arbeit der Caritas vor Ort?

Kardinal Woelki: Die erlebe ich als sehr gut und förderlich. Man bemüht sich um den Aufbau einer solidarischen Gesellschaft. Die albanische und die kosovarische Gesellschaft haben sich nach der Erfahrung des Kommunismus teilweise entsolidarisiert. Hinzu kommt, dass die Menschen die westliche Lebenswelt kennenlernen – auch deren Schattenseiten. Daher ist auch hier eine Individualisierung des Einzelnen feststellbar, nach dem Motto: Hauptsache mir geht es gut.

Wir als Kirche und Caritas versuchen hier, mit verschiedenen Projekten, Jugendarbeit und Bildungsprojekten eine solidarische Gesellschaft zu schaffen. Bildung ist neben der Korruptionsbekämpfung und dem Gesundheitssystem die dritte Säule, die dringend bearbeitet werden muss. In Tirana existieren über 100 private Hochschulen, aber oft sind diese Hochschulen so konzipiert, dass sie zwar teure Studiengebühren beanspruchen, aber nicht selten die Lehre nicht wirklich den Standards entspricht. Es muss auch in die Ausbildung einer Mittelschicht investiert werden, es müssen Handwerksberufe gefördert werden und der Dienstleistungssektor, damit die Menschen eine Perspektive bekommen.

Man muss hier z.B. Wirtschaftswissenschaften studiert haben, um als Bankkaufmann zu arbeiten. Da stimmen die Relationen einfach nicht. Deshalb gibt es die hohe Arbeitslosigkeit und diese Perspektivlosigkeit für junge Menschen. Die Menschen müssen in ihren Ursprungsländern eine Zukunft haben. Die Caritas sagt ganz deutlich: "Bleibt in euren Ländern, und baut eine neue Zivilgesellschaft mit auf, in der soziale Gerechtigkeit einen wichtiges und kennzeichnendes Kriterium darstellt."

Das Interview führte Ingo Brüggenjürgen.

Hintergrund

Der Vorsitzende der Caritas-Kommission der Deutschen Bischofskonferenz und Erzbischof von Köln, Kardinal Rainer Maria Woelki, hat heute (Freitag, 21. August 2015) seine Reise auf den Balkan beendet. Seit vergangenem Samstag war der Kardinal in Albanien und dem Kosovo unterwegs, um sich über die Arbeit der Caritas vor Ort und die Lebensbedingungen der Bevölkerung zu informieren.

In beiden Ländern sei spürbar, sagte Kardinal Woelki, dass die Gesellschaft noch immer unter den postkommunistischen Folgen leide: "Man bemüht sich um den Aufbau einer solidarischen Gesellschaft. Das ist ein langer Weg, denn natürlich ist spürbar, dass sich beide Gesellschaften nach der Erfahrung des Kommunismus in Teilen entsolidarisiert haben. Wir als Kirche und gerade die Caritas versuchen mit verschiedenen Projekten in der Jugendarbeit und durch Bildungsangebote an einer solidarischen Gesellschaft mitzubauen." Bildung sei neben der Korruptionsbekämpfung und der Entwicklung des Gesundheitssystems die dritte Säule, die dringend in den Ländern gefördert werden müsse. "Auf der Reise habe ich eine teilweise sehr arme Bevölkerung erlebt, aber ebenso gut ausgebildete Menschen. Für mich ist erschreckend, dass auch Fachkräfte Albanien und den Kosovo verlassen", so Kardinal Woelki. Ziel der Caritasarbeit vor Ort sei es, die Perspektivlosigkeit gerade der jungen Generation zu überwinden. "Die Caritas sagt sehr deutlich: ‚Bleibt in Euren Ländern und baut eine neue Zivilgesellschaft mit auf, in der soziale Gerechtigkeit ein wichtiges und kennzeichnendes Kriterium darstellt‘. Ja, durch die Caritas bekommen die Menschen eine Perspektive. Was die Kirche in Albanien und dem Kosovo leistet, ist unverzichtbar. Auch das ist Arbeit der Kirche vor Ort bei den Menschen", sagte Kardinal Woelki.

Während des Aufenthaltes auf dem Balkan standen Besuche in Flüchtlingseinrichtungen, Sozialstationen und Schulen ebenso auf dem Programm wie Gespräche mit Kirchenvertretern und der Politik. Mit Blick auf die Flüchtlinge, die unter anderem nach Deutschland kommen, betonte Kardinal Woelki zum Abschluss der Reise: "Wir haben alle Verantwortung insbesondere für Menschen, die in Not und vor allem auf der Flucht sind. Das Asylrecht ist ein Grundrecht und ein Individualrecht unabhängig von Herkunft, Religion oder Hautfarbe. Den Asylsuchenden aus den westlichen Balkanstaaten muss eine faire, unvoreingenommene und individuelle Prüfung zustehen. Ich darf Menschen nicht pauschal abschieben, nur weil sie aus Albanien oder dem Kosovo kommen." Wenn ein Asylgrund vorliege, müsse der Antragsteller auch bleiben können und Hilfe erhalten, so Kardinal Woelki. Wenn nach einer gründlichen Prüfung ein Asylbewerber abgelehnt werde, sei es richtig, ihn auch wieder in sein Heimatland zurückzuschicken. "Das entbindet uns nicht von der Verpflichtung, in diesen Ländern zu helfen, wie beispielsweise bei der Korruptionsbekämpfung oder im Erziehungsbereich."

Kardinal Woelki fügte aus seinen Erfahrungen hinzu: "So wie ich Albanien und den Kosovo erlebt habe, leben die Menschen dort in Sicherheit und werden in der Regel nicht politisch verfolgt. Wenn nun Menschen zu uns kommen, die bessere Lebensbedingungen suchen, um der Armut zu entkommen, ist das verständlich. Sie haben das Recht auf ein faires und individuelles Verfahren. Gleichzeitig brauchen wir dringend in Deutschland ein Einwanderungsgesetz, weil das deutsche Asylrecht kein geeignetes Mittel ist, um die Armut auf dem Balkan zu bekämpfen", sagte Kardinal Woelki. "Mir war es ein Anliegen, den Menschen, die ich getroffen habe, Mut zu machen und ein realistisches Bild auch von uns in Deutschland zu zeichnen: ‚Bleibt in Eurem Land! Ihr habt hier eine Zukunft! Glaubt an Eure Fähigkeiten!‘ Aber genau das ist schwierig, wenn zwei Länder, denen durch den Kommunismus alles nur zugewiesen wurde, jetzt eigenständig und eigenverantwortlich handeln sollen."

Die Arbeit, die in Albanien und dem Kosovo vor den Menschen liege, sei eine große Herausforderung. "Das ist auch eine europäische Aufgabe, der wir uns mit vereinten Kräften stellen müssen. In zwei Ländern, in denen die katholische Kirche eine Minderheit ist, leistet die Caritas enorm viel für die Gesellschaft. Daran werden wir weiter arbeiten, auch um mitzuhelfen, den Menschen in ihrer Heimat Zuversicht und Perspektiven zu vermitteln."

Kardinal Woelki wurde auf der Reise unter anderem von Weihbischof Ansgar Puff (Erzbistum Köln) und dem Präsidenten des Deutschen Caritasverbandes, Prälat Dr. Peter Neher, begleitet.


Quelle:
DR