Vor 100 Jahren starb der Antarktis-Forscher Ernest Henry Shackleton

Kampf durch die Eishölle

Die frühen Polarforscher setzten ihr Leben aufs Spiel, etliche Menschen starben. Für Ernest Henry Shackleton aber stand das Überleben der Mannschaft an erster Stelle. So rettete er auch die Crew der "Endurance" mit nahezu übermenschlichen Kräften.

Autor/in:
Jens Bayer-Gimm
Expeditionsschiff "Ouest" des Polarforschers Sir Ernest Shackleton.  / © akg-images (epd)
Expeditionsschiff "Ouest" des Polarforschers Sir Ernest Shackleton. / © akg-images ( epd )

Die Expedition scheitert schon vor dem Beginn. Sir Ernest Henry Shackleton (1874-1922), gestorben vor 100 Jahren, will 1914 mit 27 Männern als Erster die Antarktis auf einer Länge von 2.900 Kilometern durchqueren. Doch die Gruppe erreicht nicht einmal die antarktische Küste. Das Schiff "Endurance" bleibt im Packeis des Weddell-Meeres stecken. Nach acht Monaten wird es von gewaltigen Eisschollen zermalmt. Die Mannschaft rettet sich mit dem Nötigsten und drei Ruderbooten auf das Eis. Jeder darf höchstens zwei Pfund an Habseligkeiten mitnehmen.

Schneestürme und beißende Kälte

"Die Schneestürme drangen mit ihrer beißenden Kälte durch unsere abgetragenen Sachen und überhäuften uns mit Schneematsch. Durch die Körperwärme taute der weiche Schnee unter unseren Schlafsäcken und alles wurde nass. Sank die Temperatur wieder, waren Kleidung und Schlafsäcke steinhart gefroren", schildert der Fotograf Frank Hurley. Die einzige Nahrung der Männer sind Robben und Pinguine, ergänzt durch Krumen des Notproviants. Nachts ist das Blasen der Orcas in Wasserlöchern zu hören.

Der in Irland geborene und in London aufgewachsene Shackleton wurde bereits mit 24 Jahren Kapitän. Ihn lockte der letzte unentdeckte Kontinent.1907 bis 1909 leitete er eine Expedition in die Antarktis und kam näher an den Südpol heran als jemals ein Mensch zuvor. Aber er kehrte kurz vor dem Ziel um - das Überleben seiner Mannschaft war ihm wichtiger.

Auf dem Eis gestrandet

Fünf Jahre später bricht er erneut auf. Am 8. August 1914 legt die "Endurance" mit Ziel Antarktis von England ab. Am 24. Februar 1815 friert sie im Eis ein, am 26. Oktober geht sie unter. Die auf dem Eis gestrandete Mannschaft richtet Zelte auf, bastelt einen Herd aus Ölfässern. Hunger ist allgegenwärtig, nach und nach verspeisen die Männer die Schlittenhunde. Fünfeinhalb Monate nach dem Untergang des Schiffs bricht ihre nach Norden gedriftete Eisscholle auseinander, die Männer retten sich in die drei Ruderboote. Ihre Hoffnung: eine der beiden rund 90 Kilometer entfernten Felseninseln zu erreichen.

Schlaf auf Eisschollen

"Die Gischt, die über uns hinwegspritzte, gefror und überzog Männer und Boote mit Eis, während das Salzwasser unsere Kleidung durchtränkte und unsere geschundene Haut mit den Frostbeulen noch schlimmer schmerzen ließ", schrieb Fotograf Hurley. Nachts schlafen sie auf Eisschollen, Orcas pflügen durch das Wasser. Die letzten zwei Tage haben sie kein Trinkwasser mehr. Am 15. April 2016 endlich erreichen sie Elephant Island, eine sturmumtoste, von Eis und Schnee bedeckte menschenleere Berginsel.

Shackleton ist klar: Die einzige Hoffnung besteht darin, die 1.300 Kilometer entfernte Insel Südgeorgien im stürmischen Südatlantik aufzuspüren und Hilfe zu holen. Er wählt fünf Begleiter und wagt neun Tage darauf die wahnwitzige Fahrt in einem siebeneinhalb Meter kurzen Boot.

"Ein Ausruhen war unmöglich"

In den Orkanen wird das Boot wie eine Nussschale die haushohen Wellenberge hinaufgetragen und hinuntergeworfen. "Ein Ausruhen war unmöglich", erinnerte sich später Shackleton, "wir waren kalt, wundgescheuert, beklommen". Die Schaumkrone einer Riesenwoge missdeutet Shackleton zuerst als einen Riss in den Wolken. Sie müssen hartgefrorene Schlafsäcke und vereiste Ruder über Bord werfen, nur zwei Ruder bleiben ihnen. Das Trinkwasser geht aus. Aber sie schaffen das Wunder der Navigation: Nach 16 Tagen, kurz vor dem Verdursten, finden sie am 10. Mai eine Lücke durch die Klippen von Südgeorgien.

Die Walfangstationen liegen auf der anderen Seite der Insel, dazwischen ein schnee- und eisbedecktes Gebirge ohne Pfad und Steg. Shackleton wählt zwei Begleiter, die Schlafsäcke lassen sie zurück. Sie beginnen einen Gewaltmarsch über die Berge und Gletscher, durch Nebel, den Tag und die Nacht hindurch. Nach 36 Stunden erreichen die drei Männer mit letzter Kraft das Ziel. "Wir hatten den Schleier der äußerlichen Dinge durchstoßen. Wir hatten gelitten, gehungert und triumphiert", schreibt Shackleton über den Moment. "Wir hatten Gott in seiner Herrlichkeit gesehen."

Rettung der Mannschaft

Ein Schiff holt die drei zurückgebliebenen Gefährten. Sofort versucht Shackleton die Rettung der anderen 22 Männer seiner Crew auf Elephant Island zu organisieren. Drei Versuche in den folgenden Monaten schlagen fehl. Beim vierten Versuch ist das Wetter auf ihrer Seite: Am 30. August 1916 rettet der Dampfer Yelcho die Zurückgebliebenen, die viereinhalb Monate im arktischen Winter unter zwei umgedrehten Ruderbooten ausgeharrt hatten.

Mehr als zwei Jahre nach dem Aufbruch in England kommt die Mannschaft an der Südspitze Chiles an. Dort ist die ganze Stadt auf den Beinen, wie Hurley notiert: "Unser Empfang in Punta Arenas war mehr als nur ein Willkommensfest - es war ein Triumph, der gar nicht mehr aufhören wollte."

Herzversagen mit 47 Jahren

Doch die übermenschlichen Anstrengungen fordern ihren Tribut. Nachdem Shackleton im September 1921 erneut zu einer Expedition in die Antarktis aufgebrochen ist, stirbt er am 5. Januar 1922, mit 47 Jahren, auf Südgeorgien an Herzversagen.

Erst 1957/58 gelingt einer Commonwealth-Expedition mit ganz anderen technischen Mitteln die Durchquerung der Antarktis auf einer Route ähnlich wie der von Shackleton geplanten. Nur zu Fuß und auf Skiern schafften es Arved Fuchs und Reinhold Messner 1989/90, die Antarktis zu durchqueren.

Shackletons abenteuerliche Expedition regt noch heute die Fantasie von Forschern an. Der britische Meeresarchäologe Mensun Bound will Anfang 2022 mit einem Forschungsschiff ins Packeis vorstoßen. Er hofft, die auf dem Meeresgrund in 3.000 Metern Tiefe liegende "Endurance" aufzuspüren.


Eisberge im Weddellmeer, Antarktis / © Janelle Lugge (shutterstock)
Eisberge im Weddellmeer, Antarktis / © Janelle Lugge ( shutterstock )
Quelle:
epd