Julia von Lucadou über 'Die Hochhausspringerin'

Privatsphäre war gestern

Das Smartphone übernimmt immer mehr Kontrolle über uns. Es zählt unsere Schritte, misst unseren Blutdruck, macht unser Bewegungsprofi transparent und über die Sozialen Netzwerke kriegen wir mitgeteilt, welche Produkte am besten zu uns passen. In ihrem Roman 'Die Hochhausspringerin' erzählt Julia von Lucadou, wohin diese Entwicklungen führen.

Julia von Lucadou / © Maria Ursprung (Hanser Berlin)

"Die Welt ist sehr chaotisch und überfordernd. Da ist man froh, wenn jemand sagt, ich kontrolliere das für dich, ich überwache das für dich, ich bin dein Schutzengel", sagt Julia von Lucadou. "Mit diesen Versprechen kommen die neuen Technologien immer". Mit den neuen Technologien meint die Autorin die Versprechen der digitalen Welt. Am Handgelenk tragen wir die mit dem Smartphone gekoppelte Uhr, die unsere Herztöne misst und unsere Fitness kontrolliert. Über die sozialen Netzwerke lassen wir uns sagen, welche Produkte wir schätzen und unser Bewegungsprofil ist auch über das Smartphone ständig nachvollziehbar. Freiheit und Privatsphäre war gestern, Fremdbestimmung und Kontrolle ist heute. In ihrem Roman 'Die Hochhausspringerin' erzählt Julia von Lucadou von der neuen transparenten Welt. "Die Personen haben schon das Gefühl, sie können eigentlich alles kontrollieren und manipulieren", sagt Lucadou.

Eine 'sakrale Superheldin'

Die Personen, das sind im Roman die beiden Heldinnen Riva und Hitomi. Riva ist eine Hochleistungssportlerin, eine Hochhausspringerin, die sich in einem speziellen Flug-Anzug in die Tiefe stürzt, sich im letzten Augenblick fängt und wieder nach oben gleitet. Sie ist ein Star mit Millionen Fans. Die Autorin nennt sie eine 'sakrale Superheldin'. "Sie wird wie eine Heilige verehrt. Ich habe mich da an den derzeitigen Popstars orientiert, wo man das Gefühl hat – für die Fans sind das fast Heilige, denen auf Facebook oder Instagram Altäre gebaut werden".

Doch eines Tages wird Riva alles zu viel, sie trainiert nicht mehr, sie springt nicht mehr. Ihre Sponsoren und Investoren engagieren deshalb die Wirtschaftspsychologin Hitomi, die herausfinden soll, warum Riva nicht mehr springen will. Hitomi soll Riva wieder funktionstüchtig machen. Hitomi ist ein typisches Beispiel für die Menschen in der neuen digitalen Welt, die ständig vernetzt agieren, die – wie in China schon jetzt – ständig bewertet werden, Pluspunkte für ihr Handeln sammeln und leistungsorientiert optimal funktionieren. "Sie bekommt ständig Bewertungen in Sternen oder Farben durch ihren Chef, der so ihre Leistungen benotet, die sie bei der Arbeit vollbringt", erzählt die Autorin. "Ihr Fitnes-Tracker, den sie am Arm trägt, benachrichtigt sie, wenn sie eine zu hohe Pulsfrequenz hat, wenn sie nicht genug Schritte gemacht hat, oder auch wenn sie nicht gut geschlafen hat, dann wird sie gewarnt und es werden ihr Lösungsvorschläge angeboten: Meditieren oder Glückstraining oder solche Dinge".

Familie im 'Nostalgie-Porn'

Wer im System nicht mithält, sich schlecht benimmt oder nicht genug Leistung bringt, darf nicht mehr in der Innenstadt wohnen und muss in die dreckige Vorstadt, in die Peripherie, wo die Verlierer wohnen. Und auch da beschreibt Julia von Lucadou vieles, was schon heute Realität ist, wenn sie beobachtet "wie die Mietpreise in den Innenstädten angestiegen sind, da habe ich auch den Eindruck, dass Menschen, die keinen privilegierten Job mit einem hohen Gehalt haben, immer weiter in die Außenbezirke ziehen müssen".

Und auch die gute alte Familie gibt es nicht mehr. Alte Menschen werden zum 'friedlichen' Suizid überredet. Kinder leben in Heimen, weil sie die Betriebsabläufe stören und nichts zur Leistungsgesellschaft beitragen. Hitomi, die Romanheldin, schaut dann und wann sehnsüchtig auf die alte Zeit zurück. Sie kuckt dann 'Nostalgie-Porn', Filme, in denen Familienleben simuliert wird. "Sie fühlt, dass da noch Verbindungen, etwas Menschliches war, eine Wärme und Empathie, die sie vermisst. Sie kann diese alten Gefühle aber nicht mehr in ihren Alltag integrieren", erklärt Julia von Lucadou. "Deshalb ist das für sie etwas Verbotenes, was sie sich heimlich anschaut, weil es in diesen krass durchgetakteten und kontrollierten Alltag nicht mehr hineinpasst".

'Ich bin keine Kulturpessimistin'

Denn es passt nur das, was sich ökonomisch auszahlt. Der Wirtschaftsliberalismus nutzt die digitalen Möglichkeiten, die die Menschen überall und ständig vernetzen und kontrollierbar machen. Vieles, was Julia von Lucadou beschreibt, gibt es heute schon. In den Sozialen Netzwerken werden wir ausgespäht. Unser Bewegungsprofil läßt sich über unser Smartphone ständig nachvollziehen – und unser Herzschlag und Fitnessstatus soll demnächst direkt an die Krankenkassen gefunkt werden. Julia von Lucadou hat ein wichtiges, ein warnendes und ein spannendes Buch geschrieben, das die Entwicklungen unserer Zeit zuspitzt. "Ich bin keine Kulturpessimistin", sagt sie, "und ich möchte nicht zu schwarzseherisch daherreden, aber ich habe schon den Eindruck, dass wir uns langsam Gedanken machen sollten, wie wir mit dem Eingriff in unsere Privatsphäre, in unsere Persönlichkeitsrechte umgehen und wie wir den stoppen können. Ich habe schon den Eindruck, dass wir auf vielen Ebenen schon sehr nah an dem sind, was ich in meinem Roman beschreibe".


Quelle:
DR