Jean Ziegler im domradio zur Ernährungskrise

"Wir müssen aufschreien"

Steigende Lebensmittelpreise, wachsender Hunger weltweit - für Jean Ziegler ist die Entwicklung keine Überraschung. Der Politiker kritisiert seit Jahrzehnten mit scharfer Zunge globale Entwicklungen. domradio sprach mit dem UN-Sonderberichterstatter über die aktuellen Entwicklungen.

 (DR)

domradio: Die Preise für Lebensmittel steigen immer weiter und das Geld bei den Hilfsprogrammen wird knapp. Hat die Weltgemeinschaft jemals mit einer Hungerkrise in diesem Ausmaß zu tun gehabt?

Jean Ziegler: Ich glaube nicht. Es gibt zwei Aspekte: Erst einmal diese fürchterliche Tragödie, die sich nun wegen der Preisexplosion abspielt - beim Reis zum Beispiel. Das ist das am weitesten verbreitete Grundnahrungsmittel auf dem Planeten. Hier ist der Preis in drei Monaten um 53 Prozent gestiegen und steigt immer noch weiter. Eine Tonne Reis ist heute etwa bei 1 100 Dollar. Das hat die Hungeraufstände der letzten acht Tage provoziert. Das tägliche Massaker des Hungers gibt es aber seit Generationen. Letztes Jahr ist alle fünf Sekunden ein Kind unter zehn Jahren verhungert - insgesamt starben im letzten Jahr jeden Tag hunderttausend Menschen am Hunger und seinen unmittelbaren Folgen, 154 Millionen waren permanent unterernährt.

domradio: Was sind aus Ihrer Sicht die Gründe für die jetzige Krise?

Jean Ziegler: Ein Grund sind die Agrartreibstoffe. Amerika hat letztes Jahr Millionen Tonnen Mais und Getreide verbrannt und in Bioethanol und Biodiesel umgewandelt. Die EU will bis ins Jahr 2020, dass 10 Prozent der verbrauchten Energien in den EU-Ländern aus Agrartreibstoffen stammt. Auf den ersten Blick kann man dieses Argument verstehen, es geht um Klimaschutz. Aber im Prinzip wird die Mobilität der westlichen Industrieländer bezahlt durch den Tod von Hunderttausenden, die diese neuen Preise nicht bezahlen können. Weitere Gründe sind auch die Börsenspekulation auf Grundnahrungsmittel und die totale Vernachlässigung durch die Weltbank über Generationen hinweg.

domradio: Nun hat sich das Welternährungsprogramm der UNO mit der Bitte um finanzielle Unterstützung an die Industriestaaten gewandt. Kann man die momentane Krise damit zumindest kurzfristig einschränken?

Jean Ziegler: Das Welternährungsprogramm leistet humanitäre Soforthilfe. Hier geht es nicht um strukturelle Probleme wie den Agrartreibstoff oder Börsenspekulation. Hier geht es um das Überleben von Millionen Menschen. 75 Millionen sind auf der Benefizliste des Welternährungsprogramms. Alle jene, die in Flüchtlingslagern sind, Menschen, die nicht mehr ernten und sähen können, weil Krieg, Repression und Klimakatastrophen ihre Ökonomie völlig zerstört haben. Das Welternährungsprogramm, das diese Menschen ernähren will und muss, hat Anfang des Jahres 40 Prozent seiner Mittel verloren. Es braucht unmittelbar jetzt eine Milliarde Dollar, damit nur die bestehenden Programme weiter geführt werden können. Wenn die Industriestaaten - darunter auch Deutschland - diese Summe nicht bereitstellen, dann ist das Welternährungsprogramm gezwungen entweder hunderttausende Familien von der Benefizliste zu streichen oder sämtliche Rationen in den betroffenen Gebieten unter das Existenzminimum zu reduzieren. Deshalb ist ein Aufschrei des Gewissens in der Öffentlichkeit der demokratischen Länder so wichtig - damit das Welternährungsprogramm seine Arbeit fortsetzen kann und diese Menschen nicht zugrunde gehen.

domradio: Herr Ziegler, vielen Dank für das Gespräch.

Der Schweizer Jean Ziegler ist erst vor wenigen Wochen in den Beirat des UNO-Menschenrechtsrates in Genf gewählt worden. Von sieben Kandidaten erhielt der Genfer Soziologe am meisten Stimmen.