Ist die Vertriebenenseelsorge noch zeitgemäß?

"Die einen Geflüchteten gegen die anderen nicht ausspielen"

An diesem Sonntag findet die 75. Diözesanwallfahrt der Heimatvertriebenen im Dom mit Erzbischof Woelki statt. Auch wenn deren Zahl immer kleiner werde, dürften sie nicht aus dem Blick geraten, meint Pfarrer Rainer Hoverath.

Symbolbild Flüchtlinge unterwegs / © Lumiereist (shutterstock)
Symbolbild Flüchtlinge unterwegs / © Lumiereist ( shutterstock )

DOMRADIO.DE: Mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs sind bis zu 14 Millionen Deutsche aus den früheren deutschen Ostgebieten, der Tschecheslowakei, den Siedlungsgebieten im früheren Jugoslawien, Rumänien und Ungarn sowie den GUS-Staaten vertrieben worden, darunter rund die Hälfte Katholiken. 1946 baute die Kirche dann unter Papst Pius XII. eine Vertriebenenseelsorge auf, um den Geflüchteten eine religiöse Heimat zu geben. Ist das denn fast 80 Jahre später überhaupt noch ein Thema, zumal von der Generation der damals Vertriebenen kaum noch jemand lebt und wenn, dann war er so klein, dass er ja vermutlich keine Erinnerung mehr an diese Zeit hat?

Rainer Hoverath / © Beatrice Tomasetti (DR)
Rainer Hoverath / © Beatrice Tomasetti ( DR )

Pfarrer Rainer Hoverath (Kölner Diözesanbeauftragter für Vertriebenen- und Aussiedlerseelsorge): Wir dürfen nicht vergessen, diese Menschen haben Zeit gebraucht, ihre Kriegstraumata einigermaßen zu verwinden – manche jahrzehntelang. Als sie sich nach dem Krieg ein neues Leben aufbauen mussten, hatten sie zunächst keine Möglichkeit, sich mit ihren seelischen Leiden auseinanderzusetzen. Richtig ist, die Überlebenden sind heute sehr alt. Und ihre Zahl wird von Jahr zu Jahr zunehmend kleiner. Allerdings konnten selbst in den vielen vergangenen Jahren nicht alle Wunden heilen. Im Gegenteil: Ich mache immer wieder die Erfahrung, wenn es ans Sterben geht, brechen alte Geschichten mit dem unsäglichen Leid von damals wieder auf. Ein ganzes Leben reicht von daher manchmal zur Heilung von dem, was diesen Menschen angetan wurde, nicht aus.

Bis heute treffen sich viele Aussiedler und Heimatvertriebenen aus Schlesien oder dem Ermland, aus Ostpreußen und dem Sudentenland in Landsmannschaften, um den Zusammenhalt und ihre Heimatkultur bei Geselligkeit, aber auch in Gottesdiensten und Andachten mit eigenem Liedgut und in tradierten Frömmigkeitsformen zu pflegen. Selbst Ministerpräsident Hendrik Wüst hat am "Tag der neuen Heimat" vor vier Wochen die Leiter dieser Landsmannschaften empfangen und kümmert sich über den Landesbeirat für Vertriebenen-, Flüchtlings- und Spätaussiedlerfragen, in dem sich beide großen Kirchen einen Platz teilen, sehr gezielt um diese große Gruppe.

Pfarrer Rainer Hoverath

"Diese tragischen Schicksale und Erlebnisse müssen heute noch erzählt werden, auch damit die inzwischen sehr gut integrierten Kinder und Enkel der Vertriebenen ihre Wurzeln und manche unverständliche Eigenheit der Eltern und Großeltern besser verstehen."

Denn Heimatvertriebene sowie Spätaussiedlerinnen und Spätaussiedler bringen ihre tragischen Schicksale und Erlebnisse in unsere Gesellschaft hinein. Und diese müssen heute noch erzählt werden, auch damit die inzwischen sehr gut integrierten Kinder und Enkel der Vertriebenen ihre Wurzeln und manche unverständliche Eigenheit der Eltern und Großeltern besser verstehen. Außerdem kann im Kontext der aktuellen Flüchtlingsströme die oft gelungene Integration in die neue Heimat Mut machen, dass unsere Gesellschaft eine solche gemeinsame Anstrengung verkraften kann.

DOMRADIO.DE: Ins Verhältnis gesetzt zu den Menschen, die heute weltweit auf der Flucht sind – man spricht inzwischen von über 108 Millionen – wäre da nicht eine andere Schwerpunktsetzung naheliegender, zumal sich das "russische Trauma" für viele Flüchtende aus der Ukraine gerade unter veränderten Vorzeichen wiederholt? Auch Christen anderer Völker und Nationen, zum Beispiel Syrer, Iraker oder Afghanen brauchten eigentlich doch einen "Vertriebenenseelsorger", nur dass man heute von Flucht und nicht von Vertreibung spricht, also von einer eher aktiven Entscheidung, die Heimat zu verlassen…

Hoverath: Das ist richtig: Die Zahl der aktuell Geflüchteten ist groß und sie entscheiden selbst, ihr Land zu verlassen. Allerdings unter größtem Druck und manchmal auch in Todesangst. Daher bedürfen sie unserer ganzen Aufmerksamkeit und Unterstützung. Dennoch sollte man die einen Geflüchteten gegen die anderen nicht ausspielen.

Auch die Heimatvertriebenen des Zweiten Weltkrieges brauchen uns noch und sollten angesichts der sich täglich überschlagenden Zahlen neu ankommender Flüchtlinge nicht vergessen werden. Das wäre für sie eine große Enttäuschung und neue Verwundung.

Natürlich kommen auch heute viele, viele Menschen zu uns, die vor Kriegen oder menschenverachtender Politik fliehen und bei uns Schutz suchen. Gerade der Angriffskrieg Russlands und seine Folgen zeigen aber auch, wie integrativ die Heimatvertriebenen und Aussiedler wirken, weil sie sich nun selbst in der Flüchtlingshilfe engagieren und inzwischen selbstverständlich auf die Seite der Helfenden gewechselt sind.

Wer kann Geflüchtete besser verstehen als die, die selbst das Drama einer Flucht erlebt haben und das zeitlebens mit sich herumtragen! Sie wissen doch am ehesten, was es heißt, materiell und emotional alles verloren zu haben, vor dem absoluten Nichts zu stehen, und können Neuankommende ganz anders an die Hand nehmen.

Das muss man sich mal bewusst machen: Wir jammern schon bei einer Million Geflüchteten, die heute zu uns kommen. Vor 78 Jahren waren es 14 Millionen, die im völlig zerstörten Deutschland eine neue Heimat finden mussten. Und natürlich hat das bei den Einheimischen für sehr viel Abneigung gesorgt. Wer wollte schon alle diese Fremden haben – zumal im eigenen Haus!

DOMRADIO.DE: Schließlich wurden ja alle zwangsverpflichtet, in ihren eigenen vier Wänden Flüchtlinge aufzunehmen und den zur Verfügung stehenden Wohnraum mit in der Tat völlig Unbekannten zu teilen, denen gegenüber große Vorurteile bestanden…

Hoverath: Genau, niemand wurde gefragt, ob er seine Türen öffnen wollte – anders als heute. Hilfe beruhte also kaum auf Freiwilligkeit. Das heißt, diese vielen heimatlosen Menschen waren schlichtweg unerwünscht. Daher darf man selbst mit großem zeitlichem Abstand den Schmerz der Vertriebenen von 1945 und in den Jahren danach nicht klein reden. Sie wurden mit Waffengewalt gezwungen, ihre Heimat und alles, was ihnen lieb war, zu verlassen, und waren dann nirgendwo willkommen.

Pfarrer Rainer Hoverath

"Völlig schuldlos mussten diese Menschen großes Leid erdulden. Das kann man nicht vergessen. Und das erklärt auch bei älteren Menschen die nach wie vor bestehenden Ressentiments gegenüber einzelnen Nationen wie Polen oder Russland."

Viele, das höre ich immer wieder, haben die Grausamkeit ihrer Vertreibung bis heute kaum verarbeitet, was sich bei manchen in Wut, Aggression und Herzenshärte zeigt. Schließlich wurden ganze Familien auseinandergerissen, Angehörige vermisst, oft nie gefunden. Und da gab es ja noch keine Handys, um mal eben jemanden anzurufen und zu hören, wo er sich gerade aufhält. Völlig schuldlos mussten diese Menschen großes Leid erdulden. Das kann man nicht vergessen. Und das erklärt auch bei älteren Menschen die nach wie vor bestehenden Ressentiments gegenüber einzelnen Nationen wie Polen oder Russland. Tief im Herzen verjähren solche schrecklichen Erlebnisse auch nach fast 80 Jahren nicht. So nehme ich es wahr.

Und konkret zu Ihrer Frage: Wir sind im Erzbistum in der Seelsorge für die muttersprachlichen Gemeinden schon sehr gut aufgestellt und haben außerdem in der Pfarrseelsorge viele Geistliche, aber auch Laientheologen, Integrationsbeauftragte und eine Vielzahl an Ehrenamtlichen, die sich gezielt um Geflüchtete kümmern, zum Teil auch in deren Muttersprache. Da sind wir sehr aufmerksam und aktiv – vor allem auch mit der "Aktion Neue Nachbarn" des Diözesancaritasverbandes. Auch wenn vielerorts gerade die Stimmung zu kippen scheint, gibt es viele Unterstützungsangebote und ein großes kirchliches und zivilgesellschaftliches Engagement, auf das wir auch ein wenig stolz sein dürfen. Und wir gehen damit an die Ränder, raus aus unserer Komfortzone, wie es Papst Franziskus fordert.

DOMRADIO.DE: Wie konkret können Sie Vertriebenen oder Spätaussiedler und Aussiedler, für die Sie ja auch zuständig sind, überhaupt seelsorglich helfen? Was macht ein Vertriebenenseelsorger?

Hoverath: Ich bin der erste Heimatvertriebenenseelsorger unserer Diözese, der selbst nicht vertrieben worden ist. Meine Vorgänger hatten alle ausnahmslos ihre eigenen Fluchterfahrungen und haben sich deutschlandweit untereinander vernetzt; inzwischen aber sind die meisten von ihnen verstorben. Trotz fehlender eigener Erfahrungen bin ich in diese Aufgabe dennoch schnell hineingewachsen, und in den zwölf Jahren, in denen ich nun schon in dieser Verantwortung bin, sind mir diese Menschen mit ihrem unerschütterlichen Glauben und ihrer tiefen Frömmigkeit regelrecht ans Herz gewachsen. Und ich sage eben nicht: Das Ganze ist doch 80 Jahre her, nun muss es auch mal gut sein. Im Gegenteil: In der Vertriebenenseelsorge lassen wir diese Menschen, die 1945 bei Null anfangen mussten, nicht im Stich, halten sie im Blick und verkünden ihnen einen Gott, der uns bei sich Heimat versprochen hat. Schon Jesus war mit seinen Eltern auf der Flucht. Das Thema zieht sich durch die ganze Kirchen- und Menschheitsgeschichte.

Außerdem kann ich Räume offen halten, in denen sich Vertriebene und Aussiedler treffen können, zum Beispiel mit der jährlich stattfindenden Diözesanwallfahrt zum Fest der Heiligen Hedwig, der Patronin der Vertriebenen, die für die Schlesier bis heute Identifikationsfigur ist. Darüber hinaus bin ich in ihren Anliegen Ansprechpartner. Manchmal ist es wichtig, dass ich bei ihren regelmäßigen Treffen einfach nur da bin und zuhöre. Gottesdienste mit diesen Menschen feiern, Sakramente spenden kann zu ihrer Heilung beitragen. Schließlich versprechen wir Priester bei der Weihe, den Heimatlosen und Notleidenden zu helfen.

Und letztlich kann ich mich auch aus eigener Lebenserfahrung sehr gut da hineindenken, wie es ist, am Boden zu sein, alles zu verlieren, was einem viel bedeutet hat, und ganz neu anzufangen.

DOMRADIO.DE: Wenn Menschen ihre Heimat verlieren, wirkt das oft in nachfolgende Generationen weiter. Es bleiben Vorbehalte, manchmal feindliche Gesinnung und Hass gegenüber den Tätern, die automatisch übertragen werden. Welche Rolle spielt in der Vertriebenenseelsorge das Thema Versöhnung?

Hoverath: Vor einiger Zeit fiel mir ein Gebetszettel aus der Zeit der endvierziger Jahre in die Hände, der mich sehr berührt hat. Zum einen las ich da von bedrängender Not, aber eben auch die Bitte an Gott, sich doch mit den Tätern versöhnen zu können. Dieser Wunsch, der da sehr behutsam zum Ausdruck kam, bewegt mich bis heute. Versöhnung ist ja ein Hauptthema der christlichen Botschaft. Allein schon deshalb spreche ich es immer wieder an. Die Bitte um Versöhnung formulieren wir in jedem "Vater unser" und sie ist die einzige, die Jesus im Matthäus-Evangelium näher erläutert, indem er sagt: Wenn ihr nicht vergebt, vergibt auch Gott euch nicht.

Pfarrer Rainer Hoverath

"Der Prozess des Vergebens ist oft ein sehr langsamer, Kräfte zehrender. Aber wer es schafft, diesen Weg einzuschlagen, erlebt, dass der existenzielle Schmerz erträglicher wird – bis hin, dass er nicht mehr das eigene Leben bestimmt."

Natürlich sagt sich das so einfach. Aber letztlich gibt es ja nur zwei Optionen auf eine unverschuldete Verletzung zu reagieren: Ich verhärte mein Herz und werde ein ungenießbarer Griesgram und Kautz. Oder aber ich suche den Frieden im Herzen – zugegeben ein langer und schwerer Weg, auf dem Täter und Opfer je ihre Aufgaben haben. Dabei kann uns der Satz Jesu am Kreuz "Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun" leiten. Der Prozess des Vergebens ist oft ein sehr langsamer, Kräfte zehrender. Aber wer es schafft, diesen Weg einzuschlagen, erlebt, dass der existenzielle Schmerz erträglicher wird – bis hin, dass er nicht mehr das eigene Leben bestimmt. Auch darin sehe ich meine Aufgabe als Seelsorger, nämlich über unsere eigentliche Glaubensbotschaft zu sprechen: über Barmherzigkeit und Versöhnung. Nichtsdestotrotz müssen wir ernst nehmen und akzeptieren, wenn das jemand nicht kann. Zur echten Versöhnung kann man nicht gezwungen werden.

DOMRADIO.DE: Am Sonntag feiert Kardinal Woelki die 75. Diözesanwallfahrt für Vertriebene und Aussiedlerinnen und Aussiedler. Welche Erwartung haben Sie?

Hoverath: Ich bin sehr glücklich, dass zum allerersten Mal der amtierende Erzbischof von Köln, den ich als Seelsorger sehr schätze, mit uns diese Hedwigsmesse feiert, zumal die Eltern unseres Kardinals selbst aus dem Ermland vertrieben wurden.

Schon jetzt freue ich mich auf die Mitwirkung des oberschlesischen Blasorchesters, der Fahnenträger und Trachtengruppen, auf eine ermutigende Predigt und darauf, dass der Erzbischof mit dieser Feier auch ein deutliches Zeichen der Wertschätzung setzt, nämlich dass die Heimatvertriebenen von damals genauso wie die aktuell Geflüchteten nicht aus dem Fokus unserer Verantwortung als Christen geraten. Willkommen zur Mitfeier sind uns jedenfalls alle, die sich auf je eigene Weise in ihrem Herzen heimatlos fühlen.

Das Interview führte Beatrice Tomasetti.

Deutschland beherbergt die meisten Ukraine-Flüchtlinge in der EU

Die Zahl der Kriegsvertriebenen aus der Ukraine mit temporärem Schutzstatus in der EU hat wieder die Marke von vier Millionen überschritten. Fast drei von zehn fanden Aufnahme in Deutschland, wie das europäische Statistikamt Eurostat (Mittwoch) in Luxemburg mitteilte. Demnach beherbergte die Bundesrepublik zum Stichtag 30. Juni über 1,1 Millionen Ukrainer und andere Drittstaatsangehörige, die vor dem Krieg geflohen sind, mehr als jedes andere EU-Land.

Anastasiia Kramarenko, Geflüchtete aus der Ukraine, mit ihrem Baby auf dem Schoß und ihrem Sohn daneben in ihrer Unterkunft im Aloisiuskolleg in Bonn am 6. Dezember 2022. / © Julia Steinbrecht (KNA)
Anastasiia Kramarenko, Geflüchtete aus der Ukraine, mit ihrem Baby auf dem Schoß und ihrem Sohn daneben in ihrer Unterkunft im Aloisiuskolleg in Bonn am 6. Dezember 2022. / © Julia Steinbrecht ( KNA )
Quelle:
DR