Israelische Friedensaktivistin zum "Jerusalem-Tag"

"Kein Grund zum Feiern"

Mit Dankgebeten, Straßenfesten und Umzügen feiert Israel am Mittwoch den "Jerusalem-Tag". Er erinnert an die "Wiedervereinigung" der Stadt durch den israelischen Sieg im Sechstagekrieg 1967. "Ir Amim"-Sprecherin Orly Noy, israelische Jüdin, zeigt besorgt über die politische Zukunft Jerusalems.

 (DR)

KNA: Frau Noy, in Deutschland kennen wir fröhliche Feiern zum Tag der Wiedervereinigung - wie sieht ein solcher Feiertag in Jerusalem aus?
Noy: Sehr anders. In Jerusalem wird die Vereinigung nur in einem Teil gefeiert, im israelisch-westlichen Teil. Für die Palästinenser in Ostjerusalem hingegen bedeutet dieser Tag 43 Jahre Besatzung und illegale Annexion. Zudem leben in den palästinensischen Stadtteilen rund 20.000 jüdische Israelis, die dort gezielt angesiedelt wurden, um die israelische Souveränität über die ganze Stadt zu untermauern. Das alles ist für die Palästinenser wahrlich kein Grund zum Feiern.

KNA: Wie sehen sie die politischen Perspektiven für die Stadt?
Noy: Beunruhigend. Die Stadt versinkt immer mehr in Gewalt und Armut. Das Bild einer geeinten Stadt ist völlig irreführend. Im Gegenteil ist alles getrennt: Israelische Busse würden niemals die arabischen Viertel anfahren. Wir haben getrennte Schulsysteme, die Palästinenser nehmen nicht an den Wahlen zum Stadtrat teil und haben so keine Vertreter dort. Statt eine künstliche Vereinigung zu feiern, sollten wir wahrnehmen, dass es hier zwei Völker und drei Religionen gibt, die sich die Stadt in Würde teilen müssten - und dass sie nicht das Eigentum eines Volkes und einer Religion sein kann.

KNA: Kann die Stadt nur dann in Würde geteilt werden, wenn sie aufgeteilt wird?
Noy: Wir sagen nicht, dass sie auch physisch geteilt, dass eine Mauer gebaut werden muss. Aber die Souveränität muss ganz sicher aufgeteilt werden. Es gibt mehr als hundert Entwürfe, wie das konkret aussehen könnte. Manche fordern etwa, das Gebiet der Altstadt zu internationalisieren. Ich glaube, dass jede Lösung, mit der beide Seiten einverstanden sind, eine gute Lösung ist.

KNA: Also muss Israel den Anspruch auf Jerusalem als seine «ewige, ungeteilte Hauptstadt», aufgeben?
Noy: Israel erhebt diesen Anspruch seit 43 Jahren - gegen internationales Recht. Denn international wurde die Annexion Ostjerusalems nie anerkannt. Aber Israel ignoriert das und baut seine Siedlungen im Ostteil der Stadt weiter aus, schadet damit dem Friedensprozess. Gleichzeitig sind die Lebensverhältnisse der Palästinenser extrem kritisch: Mehr als 70 Prozent der Bewohner Ostjerusalems leben unterhalb des Existenzminimums. Es gibt keinerlei adäquate Infrastruktur: Es fehlen mehr als 1.000 Klassenzimmer in Ostjerusalem! Israel kann und will die palästinensischen Viertel nicht mit all dem versorgen, was sie brauchen. So ist es die logischste Lösung, die Verantwortung dafür den Palästinensern zu überlassen.

KNA: Religiöse Juden haben allerdings eine besondere Beziehung zu vielen Orten in Ostjerusalem...
Noy: Ja, etwa in Silwan. Das ist eines der größten palästinensischen Viertel, direkt neben der Altstadt. Nach jüdischer Tradition befand sich dort die einstige Stadt Davids. Die Zukunft eines politisch so sensiblen Ortes müsste am Verhandlungstisch geklärt werden. Stattdessen schafft Israel jedoch einseitig Fakten, hat Teile Silwans zum Nationalpark erklärt und dessen Leitung einer Siedlergruppe übertragen. Das ist eine der Methoden, die Israel anwendet, um seine Kontrolle über die Stadt auszubauen.

KNA: Wird Ihre Position in der israelischen Gesellschaft gehört?
Noy: Das Thema Jerusalem ist extrem emotionsgeladen - darum sind die Reaktionen oft irrational. Es ist schwierig, die israelische Öffentlichkeit dazu zu bringen, den Fakten ins Gesicht zu schauen. Aber genau das ist unser Ziel. Ich denke auch, dass Jerusalem unter einem soliden Friedensabkommen seine Vielfalt viel mehr genießen könnte. Diese Vielfalt ist ja faszinierend - aber unter den derzeitigen Bedingungen bringt sie leider nur Probleme.

KNA: Manche sind der Ansicht, dass die Vielfalt selbst die Quelle der Probleme sei - Jerusalem beweise, dass die Religionen nicht miteinander auskommen können...
Noy: Das ist völliger Unsinn. Juden, Christen und Muslime haben jahrhundertelang an vielen Orten der Welt bestens zusammen gelebt. Ich bin selbst im Iran aufgewachsen und wir sind als Juden dort sehr gut mit den Muslimen ausgekommen. Auch jetzt hat meine Familie im Iran keinerlei Probleme - die Regierung ist anti-israelisch aber nicht anti-jüdisch. Auch hier haben wir weder ein religiöses noch ein kulturelles Problem, sondern ein politisches Problem. Darum brauchen wir auch eine politische Lösung, die sicherstellt, dass die kulturellen und religiösen Unterschiede die Stadt bereichern, statt sie in Konflikte zu stürzen.

KNA: Der Lateinische Patriarch von Jerusalem, Fouad Twal, hat seine Sorge darüber geäußert, dass die Siedlerprojekte den Charakter Jerusalems als «heilige Stadt» zu zerstören und ein «religiöses Disneyland» zu schaffen drohten. Teilen Sie diese Befürchtung?
Noy: Die politischen Konflikte in Jerusalem tragen sicher nicht dazu bei, die einzigartige religiöse Atmosphäre der Stadt zu bewahren. Und es ist auf jeden Fall positiv, wenn auch Kirchenführer sich zu Wort melden. Wir heißen jeden Beitrag willkommen, der eine ernsthafte Friedenslösung fördert. Die Kirchen können dabei eine konstruktive Rolle spielen, schließlich haben sie eine wichtige Stellung in der Stadt und werden in vielen Ländern der Welt gehört.

Interview: Gabi Fröhlich