Interventionsbeauftragte warnt vor möglichen Folgen

"Solche Taten sind nicht irrelevant"

Was unterscheidet übergriffiges Verhalten von sexuellem Missbrauch? In mehreren Bistümern gibt es aktuell Vorwürfe gegen Mitarbeiter. Doch wo verläuft die Grenze? Kann man die überhaupt bestimmen? Ein Klärungsversuch.

Symbolbild Missbrauch / © Alex Cherepanov (shutterstock)
Symbolbild Missbrauch / © Alex Cherepanov ( shutterstock )

DOMRADIO.DE: In der Berichterstattung über Sexualisierte Gewalt gibt es immer wieder Fälle, in denen es heißt, Personen werde kein direkter schwerer Missbrauch vorgeworfen, sondern lediglich übergriffiges Verhalten. Kann man Missbrauch von übergriffigem Verhalten überhaupt klar unterscheiden?

Malwine Raeder, Interventionsbeauftragte und Leiterin der Stabsstelle Intervention Erzbistum Köln (Erzbistum Köln)
Malwine Raeder, Interventionsbeauftragte und Leiterin der Stabsstelle Intervention Erzbistum Köln / ( Erzbistum Köln )

Malwine Raeder (Interventionsbeauftragte, Leiterin der Stabsstelle Intervention Erzbistum Köln): Zunächst ist es mir wichtig zu betonen, dass auch übergriffiges Verhalten für Betroffene schwere Folgen haben kann.

Es ist richtig, dass es unterschiedliche Schweregrade im Bereich der sexualisierten Gewalt gibt: von grenzverletzendem Verhalten über sexuelle Übergriffe bis hin zu schwerem sexuellen Missbrauch. Die Unterscheidung ist je nach Situation entweder eindeutig möglich oder aber schwieriger, etwa wenn die Umstände zum Beispiel unklar sind oder nicht konkret benannt werden können. Grundsätzlich hat sich in den letzten Jahren eine Differenzierung in die drei nachfolgenden Bereiche etabliert und auch bei dem fachlich adäquaten Umgang geholfen:

Grenzverletzungen: Diese werden unbeabsichtigt verübt und beruhen meist auf persönlichen oder fachlichen Unzulänglichkeiten sowie einer gewissen Unachtsamkeit; zum Beispiel auf einem Schulfest fragt die Lehrerin einen 13-jährigen Jungen aus, ob er schon eine feste Freundin hat.

Sexuelle Übergriffe: Hier werden – anders als bei unbeabsichtigten Grenzverletzungen – die physischen Grenzen des Gegenübers häufig und massiv überschritten. Das geschieht beispielsweise durch das Ignorieren des Widerstandes Betroffener oder auch dadurch, dass konkrete Kritik Dritter am Verhalten abgetan wird. Ein Beispiel: Der Onkel kneift seine Nichte jedes Mal zur Begrüßung in die Hüfte und macht ihr anzügliche Komplimente.

Strafbare Handlungen im Bereich sexualisierter Gewalt: Hierzu zählt unter anderem der sexuelle Missbrauch von Minderjährigen, also zum Beispiel das Durchführen von sexuellen Handlungen an Minderjährigen, Vergewaltigung, sexuelle Nötigung und der Besitz und die Verbreitung kinderpornographischem Materials.

DOMRADIO.DE: Was wäre denn für Sie als Interventionsbeauftragte ein Beispiel, bei dem ein kirchlicher Mitarbeiter oder eine Mitarbeiterin sich übergriffig verhält?

Raeder: Ein Beispiel wäre, dass ein Lehrer die Umkleidekabinen der Mädchen nach dem Sportunterricht immer wieder ohne "Vorwarnung" betritt und dies auch dann nicht unterlässt, wenn es bereits Beschwerden darüber gegeben hat.

Wäre dies hingegen aufgrund einer Unachtsamkeit einmalig geschehen und hätte dieser Lehrer in Folge einer Beschwerde Einsicht gezeigt, sich womöglich bei den Mädchen dafür entschuldigt und seitdem sein Verhalten korrigiert, wäre dies als eine Grenzverletzung anzusehen und von der Gravität anders einzustufen als eben bei wiederholtem, uneinsichtig übergriffigem Verhalten.

DOMRADIO.DE: Bei übergriffigem Verhalten heißt es bisweilen, dass es strafrechtlich nicht relevant sei. Was bedeutet das für Opfer, fühlen die sich dann noch ernst genommen?

Raeder: Ich stimme Ihnen zu, dass dies aus Betroffenenperspektive eine unglückliche Bezeichnung ist, die im Einzelfall als verletzend aufgenommen werden kann. Denn es könnte suggerieren, dass die Taten irrelevant seien und dadurch in irgendeiner Weise in Ordnung wären.

Aus diesem Grund nutzen meine Mitarbeiter und ich eher die Formulierung, dass bestimmte Taten strafrechtlich nicht verfolgbar sind. Dies gilt zum Beispiel im Falle von bereits eingetretener Verjährung. Mir ist es wichtig festzuhalten: Nur, weil bestimmte Grenzverletzungen oder übergriffiges Verhalten in vielen Fällen nicht justiziabel sind, bedeutet dies nicht, dass es hierfür keinen adäquaten Umgang beziehungsweise Konsequenzen in Institutionen geben kann und gibt.

DOMRADIO.DE: Menschen, die in der Seelsorge arbeiten, kommen zwangsläufig anderen recht nah, gerade in Krisenzeiten. Wie kann man da eine notwendige Distanz halten?

Raeder: In der Seelsorge geht es häufig um existenzielle Themen, welche oftmals mit starken Emotionen und womöglich auch einem Bedürfnis nach Nähe und Rückhalt einhergehen können.

Aus eigener Erfahrung sage ich aber: Bereits durch Zuhören und Dasein, durch Empathie und Respekt ist es möglich, diesem Bedürfnis einen angemessenen Raum zu geben, ohne dabei die Grenzen des Gegenübers zu überschreiten. Darum ist auch ein wichtiger Teil der Präventionsschulungen im Erzbistum Köln, Wissen über ein angemessenes Nähe-Distanz-Verhalten zu vermitteln und durch konkrete Beispiele Achtsamkeit beziehungsweise ein Gespür für Grenzen zu fördern.

Die Fragen stellte Mathias Peter.

Chronik der Missbrauchs-Aufarbeitung bundesweit und in Freiburg

Januar 2010: Der Jesuit Klaus Mertes macht öffentlich, dass es an seiner Schule in Berlin sexualisierte Gewalt und Missbrauch gab - und die Fälle lange verschleiert wurden. Der Skandal löst eine Welle von Enthüllungen in der Kirche und in anderen Institutionen aus.

Februar 2010: Die katholischen Bischöfe bitten bei ihrer Vollversammlung in Freiburg um Entschuldigung. Ein Sonderbeauftragter (Bischof Stephan Ackermann aus Trier) wird benannt, eine Hotline für Betroffene eingerichtet.

Blick auf ein Wandkreuz während der Vorstellung des Missbrauchsgutachtens im Erzbistum München und Freising / © Sven Hoppe (dpa)
Blick auf ein Wandkreuz während der Vorstellung des Missbrauchsgutachtens im Erzbistum München und Freising / © Sven Hoppe ( dpa )

 

Quelle:
DR