Interreligiöser Verband wirft Politik Terrorfinanzierung vor

"Typische Reaktion des Westens"

Viel Geld für humanitäre Projekte kommt aus dem Westen in den Gaza-Streifen. Das Geld lande mittelbar bei den Terroristen der Hamas, kritisiert Jürgen Wilhelm von der Kölnischen Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit.

Tel Aviv: Israelis inspizieren die Trümmer eines Gebäudes, einen Tag nachdem es von einer aus dem Gazastreifen abgefeuerten Rakete getroffen wurde / © Oded Balilty/AP (dpa)
Tel Aviv: Israelis inspizieren die Trümmer eines Gebäudes, einen Tag nachdem es von einer aus dem Gazastreifen abgefeuerten Rakete getroffen wurde / © Oded Balilty/AP ( dpa )

DOMRADIO.DE: Sie schreiben in Ihrer Stellungnahme: "Wir hoffen und beten, dass unsere vielen Freunde und Verwandten in Israel in Sicherheit sind." Haben Sie schon Lebenszeichen erhalten?

Prof. Dr. Jürgen Wilhelm, Vorsitzender der Kölnischen Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit e.V. (Kölnische Gesellschaft)
Prof. Dr. Jürgen Wilhelm, Vorsitzender der Kölnischen Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit e.V. / ( Kölnische Gesellschaft )

Prof. Dr. Jürgen Wilhelm (Vorsitzender der Kölnischen Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit): Ja, Gott sei Dank habe ich noch keine schrecklichen Nachrichten aus Tel Aviv erhalten. Das liegt daran, dass Tel Aviv bisher nur von relativ wenigen Raketen erreicht werden konnte. Die Hauptziele lagen ja alle in der Umgebung von Gaza und den Dörfern und Städten dort.

Positiv muss ich sagen, dass noch alle leben. Und obwohl ein guter Freund insbesondere auch meiner Kinder sofort zum Reservedienst eingezogen worden ist, ist auch da bisher noch nichts passiert. Aber das ist bei vielen Familien leider anders.

DOMRADIO.DE: Das Auswärtige Amt rät von Reisen nach Israel ab. Es sind aber gegenwärtig auch einige Besucher aus Deutschland dort, die von den Angriffen ebenso überrascht worden sind wie die Menschen in Israel selbst. Glauben Sie, dass derzeit eine sichere Ausreise möglich ist?

Wilhelm: Das kann man von hier aus schlecht beurteilen. Es scheint aber so zu sein, da das Auswärtige Amt in ständigem Kontakt mit der deutschen Botschaft in Tel Aviv steht. Und Herr Seibert ist ja ein sehr erfahrener, aus dem Kanzleramt kommender Botschafter, ein früherer Journalist, wie man weiß. Dort wird gesagt, die Linienmaschinen zum Ausflug stehen noch bereit. Es gibt noch einen Service, von Tel Aviv wegzukommen. Aber das muss vor Ort entschieden werden und es wird wahrscheinlich stündlich anders entschieden.

Ein von einer Rakete aus Gaza getroffenes Gebäude in Tel Aviv / © Oded Balilty (dpa)
Ein von einer Rakete aus Gaza getroffenes Gebäude in Tel Aviv / © Oded Balilty ( dpa )

Ich war vor wenigen Monaten auch noch in Jerusalem und auch in Bethlehem auf der palästinensischen Seite. Da war ja alles friedlich. Man kann ja in dem relativ überschaubar kleinen Land ganz gut zum Tel Aviver Flughafen kommen. Aber darüber wird man sich vor Ort sehr sorgfältig erkundigen müssen, was gerade wie, wann und wo möglich ist.

DOMRADIO.DE: Solidarität hört man in diesen Tagen sehr viel. Es ist vor allem eine moralische Einstellung. Gibt es darüber hinaus noch etwas, wie wir von Deutschland aus helfen können?

Prof. Dr. Jürgen Wilhelm

"Wir erleben es [...], dass der Antisemitismus leider wieder in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist."

Wilhelm: Ja, natürlich. Man kann zum Beispiel politisch Solidarität zeigen in Spontankundgebungen, in öffentlichen Aufrufen, auch in Diskussionen. Wir erleben es von der Christlich-Jüdischen Gesellschaft her und unsere jüdischen Freunde erst recht natürlich und viel unmittelbarer, dass der Antisemitismus leider wieder in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist. Er ist sicher befördert worden durch rechtsradikale Kräfte wie die AfD und andere. Aber das ist es nicht alleine, es geht weit darüber hinaus.

So ist es gestern auch in anderen großen Städten, aber eben auch in Köln zu einer sehr ansehnlichen Spontankundgebung gekommen. Heute werde ich in Bergisch Gladbach sprechen, immerhin eine Stadt mit über 100.000 Einwohnern. Da werden wohl einige hundert Menschen kommen. Ja, das kann man tun.

Konkrete humanitäre Hilfe nach Israel zu senden, ist meines Erachtens im Augenblick erstens logistisch kaum möglich und vielleicht auch – soweit man das jetzt von hier aus beurteilen kann – noch nicht erforderlich.

DOMRADIO.DE: In Deutschland sieht man allerdings nicht nur Solidarität mit Israel. Aus Berlin haben wir am Wochenende Bilder gesehen, wie Sympathisanten der Hamas-Bewegung auf die Straße gegangen sind und die Angriffe regelrecht gefeiert haben. Wie haben diese Bilder auf Sie gewirkt?

Prof. Dr. Jürgen Wilhelm

"Diese Typen vornehmlich da in Berlin-Neukölln sollten, wenn es in irgendeiner Weise geht, juristisch belangt werden."

Wilhelm: Das ist schon schockierend und im Grunde unerträglich. Man mag ja Sympathie mit dem einen oder anderen haben. Aber bei öffentlichen Kundgebungen in Deutschland dazu aufzurufen und zu bejubeln, dass israelische Menschen getötet worden sind, als Geiseln genommen worden sind, das geht gar nicht.

Pro-palästinensische Demonstration in Berlin / © Paul Zinken (dpa)
Pro-palästinensische Demonstration in Berlin / © Paul Zinken ( dpa )

Bei den Geiseln handelt es sich auch um Frauen und Kinder, um ältere Menschen. Man hat ja sogar schrecklicherweise einige Videos sehen können, wie die Hamas mit unschuldigen Zivilisten umgegangen ist. Es ist ja ein ekelhafter Terror und diese Typen vornehmlich da in Berlin-Neukölln sollten, wenn es in irgendeiner Weise geht, juristisch belangt werden. Und wenn sie hier nicht leben wollen, dann sollen sie doch nach Palästina gehen und dort kämpfen.

DOMRADIO.DE: Die Europäische Union fördert den Gazastreifen mit Millionenbeträgen, um die schlechten Lebensbedingungen dort zu verbessern. Sind die Gelder vor dem aktuellen Hintergrund dort richtig angelegt worden?

Wilhelm: Das weiß jeder, der sich mit dem Land beschäftigt, dass dieses Geld zu einem Großteil mittelbar bei der Hamas landet. Das ist die typische Reaktion des Westens, augenzwinkernd Erkenntnisse nicht zur Kenntnis zu nehmen, zu verdrängen oder aus vermeintlich übergeordneten politischen Gründen nicht infrage stellen zu wollen.

Das ist im großen internationalen Kontext üblich und in gewisser Weise sogar hier und da verständlich. Bei den Überweisungen an den Gazastreifen ist es aber seit Jahren ein Elend, weil die humanitäre Hilfe nur sehr, sehr geringfügig ankommt.

Prof. Dr. Jürgen Wilhelm

"Wir finanzieren letztlich die Terroristen, die wir dann anschließend so bezeichnen und dann wieder verachten."

Wenn man es böse oder kritisch formulieren will, könnte man sagen: Wir finanzieren letztlich die Terroristen, die wir dann anschließend so bezeichnen und dann wieder verachten. Da ist auch eine gewisse Unehrlichkeit in der internationalen Zusammenarbeit mit den palästinensischen Gebieten zu verzeichnen.

DOMRADIO.DE: Israel befindet sich derzeit in einer starken innenpolitischen Krise. Die Gesellschaft ist gespalten, die Regierung Netanjahu ist in der Kritik. Wie werden sich die aktuellen kriegerischen Auseinandersetzung auf die politische Situation in Israel auswirken?

Wilhelm: Im Augenblick wird sich das Volk natürlich geschlossen gegen diesen terroristischen Angriff zur Wehr setzen. Das sagen ja auch alle Nachrichten und alle Menschen, die sich äußern, die Verantwortung haben.

Man muss kein Freund der Regierung Netanjahu sein und seine Politik und seine merkwürdige rechtslastige Koalition auch nicht gut finden. Aber in der Gefahr ist es so, dass die Hamas natürlich jetzt ein Zusammenfinden des israelischen Volkes und der Gesamtbevölkerung erreicht hat.

Wenn man so will, ist das ein positiver Aspekt, der diesen Überfall aber selbstverständlich in keiner Weise legitimiert. Aber er schweißt den Staat von außen zusammen, soweit ich das der Berichterstattung entnehmen kann.

DOMRADIO.DE: Geht die Regierung Netanjahus gestärkt daraus hervor?

Wilhelm: Ob sie gestärkt daraus hervorgehen kann, das weiß ich nicht. Denn die Sicherheitsbehörden haben ja offenbar riesige Lücken gehabt. Nicht nur der berühmt-berüchtigte Mossad als Geheimdienst war offenbar nicht richtig informiert oder hat die ihm zugehenden Informationen nicht richtig bewertet oder hat sie nicht weitergeleitet. Oder das politische Kabinett um Netanjahu hat nicht entschlossen genug reagiert und nicht drauf gehört.

Das große Fragezeichen, das im Augenblick über allem steht: Wie konnte ein solcher massiver Überfall von tausenden von palästinensischen Terroristen passieren, die in das Land Israel eingedrungen sind und auch Zäune überwunden haben? Ob das der Regierung Netanjahu am Ende des Tages auf die Füße fällt, das wird man sehen.

Das Interview führte Jan Hendrik Stens.

EU-Kommission friert Zahlungen an Palästinenser ein

Die EU friert angesichts des Angriffs der islamistischen Terrororganisation Hamas auf Israel sämtliche Entwicklungshilfezahlungen an die Palästinenser vorerst ein. Das kündigte der zuständige EU-Kommissar Oliver Varhelyi am Montag in Brüssel über den Kurznachrichtendienst X an. Ein Sprecher der Behörde bestätigte die Entscheidung.

Symbolbild: Geld überreichen / © Ponderful Pictures (shutterstock)
Symbolbild: Geld überreichen / © Ponderful Pictures ( shutterstock )
Quelle:
DR