Inklusion meint Einbeziehung aller und könnte das Bildungssystem revolutionieren

Jessica will nicht auf eine Förderschule

Jessica Möller schwimmt gerne und verabredet sich am liebsten mit ihren Freundinnen. Die Zehnjährige besucht die vierte Klasse einer Grundschule in Osnabrück. "Sie ist super integriert und hat von den stärkeren Schülern enorm profitiert", sagt ihre Mutter Silke Möller. "Da ist es doch widersinnig, dass sie nach der Grundschulzeit im Sommer eigentlich auf eine Förderschule für Lernbehinderung soll."

Autor/in:
Martina Schwager
 (DR)

18 Prozent aller behinderten Kinder werden in Deutschland in Regelschulen unterrichtet

Das Lernen macht Jessica Spaß, obwohl es ihr viel schwerer fällt als den Klassenkameraden. Sie bekommt häufig andere Aufgaben und Hilfen durch eine Förderlehrerin. Jessica hat eine Lernschwäche. "Na und?", sagen ihre Mitschüler. Die Förderschule wäre für Jessica der normale Weg. Nur 18 Prozent aller behinderten Kinder werden in Deutschland in Regelschulen unterrichtet, vor allem in Grundschulen. In weiterführenden Schulen ist ihr Anteil sehr gering.



Nach geltendem Recht müsste Jessica jedoch der Besuch einer Regelschule auch weiter ermöglicht werden. Nach der UN-Behindertenrechtskonvention haben alle Kinder mit Benachteiligungen einen Anspruch, an regulären Schulen unterrichtet zu werden. Der entscheidende Fachbegriff lautet "Inklusion". Er meint die selbstbestimmte und selbstverständliche Teilhabe aller an der Gesellschaft.



Dahinter stehe ein neues Gesellschaftsmodell, urteilt die Kinderkommission des Deutschen Bundestages. Behinderung ist danach eine normale Variante des menschlichen Lebens. Der behinderte Mensch steht nicht außerhalb und muss erst noch integriert werden. Er gehört ganz selbstverständlich dazu. Also muss die Gesellschaft in allen Bereichen und somit auch in der Bildung die Voraussetzungen schaffen, dass jeder teilhaben kann.



Mit der Aufteilung der Schüler ist Inklusion nicht möglich

Ein solches Gesellschaftsmodell könnte die deutsche Schullandschaft umkrempeln, meinen Experten. Simone Seitz, Bremer Professorin für inklusive Pädagogik, und Anne-Dore Stein, Professorin für inklusive Erziehung an der Evangelischen Fachhochschule Darmstadt, halten einen Wechsel im Schulsystem für nötig. "Denn mit der Aufteilung der Schüler in Förderschulen, Hauptschulen, Realschulen und Gymnasien ist Inklusion nicht möglich", sagt Stein: "Inklusion meint wirklich alle." In vielen Ländern in Skandinavien, in Italien oder Kanada werde Inklusion in Kindergärten und Schulen längst flächendeckend praktiziert.



Der Präsident der Kultusministerkonferenz, der Niedersachse Bernd Althusmann (CDU), hält dagegen eine Änderung des Schulsystems für nicht nötig. Fortbildungen und eine Umstellung der Lehrerausbildung seien zunächst ausreichend. Ohnehin sei nicht in allen Fällen "gemeinsames Lernen" die sinnvollste Lösung.



Forderung nach mehr qualifiziertem Personal

Die Inklusion von Schwerstbehinderten, Autisten oder Gehörlosen könnten sich die meisten tatsächlich nicht vorstellen, sagt Pädagogin Stein. Dass aber gerade die Inklusion dazu führe, dass eine "Restgruppe" ausgeschlossen werde, dürfe auf keinen Fall passieren, warnt sie. Deshalb seien mehr qualifiziertes Personal und eine entsprechende Ausstattung notwendig.



Auf einen Wandel des deutschen Bildungssystems können Jessica und ihre Mutter nicht warten. Mit einem eigens gegründeten "Netzwerk Inklusion" will Silke Möller die Sache vorantreiben: "Die sollen doch endlich mal anfangen." Für den Regelschulbesuch ihrer Tochter würde sie sogar klagen. Aber Jessica hat wahrscheinlich Glück. Die neue Integrierte Gesamtschule in Osnabrück will künftig auch behinderte Schüler aufnehmen, sagt Schulleiter Stefan Knoll.