Immer mehr Jugendliche verletzen sich mit Absicht selbst

Pubertätsritus oder Jugendkrankheit?

Vor der Kamera holt Francesca eine kleine Tasche aus buntem Bast unter dem Bett hervor. "Das ist mein Notfallkoffer" sagt sie und zeigt einen Igelball, eine Haarkur, einen Badezusatz und ein kleines Säckchen. Als sie eine Scherbe herauszieht, wird klar, dass ihr kleiner Koffer mehr als eine "Wellness-Tasche" ist. "Die Scherbe habe ich aus der Jugendpsychiatrie mitgebracht", erzählt Francesa. "Immer wenn ich mich wieder selbst verletzen will, erinnert sie mich an mein Versprechen, es nicht mehr zu tun."

 (DR)

Wie ernst Francesca es mit diesem Versprechen meint, zeigt sie in dem Film "Lebenszeichen" des Medienprojekts Wuppertal. Gemeinsam mit vier anderen jungen Frauen zwischen 16 und 20 Jahren hat sie den 80-minütigen Film konzipiert und gedreht. Das Medienprojekt Wuppertal, das seit 1992 Videos mit Jugendlichen realisiert, bietet ihn bundesweit zur Vorführung in Schulen und Jugendgruppen an. Zum ersten Mal sprechen die Jugendlichen darin offen über ihre Selbstverletzungen, die sie jahrelang schamhaft verschwiegen haben. Ihr öffentliches Bekenntnis verstehen sie auch als Selbstverpflichtung.

"Ich habe noch alle zwei bis drei Monate einen Rückfall", gibt Francesca zu. "Aber in spätestens sechs Jahren will ich geheilt sein." Drei Jahre "Ritzen" mit Scherben, Messern und Rasierklingen hat sie hinter sich. "Es war wie eine Sucht", erzählt sie. "Immer, wenn es mir schlecht ging, habe ich mich geschnitten." Das habe sie von ihrem Druck und den schlechten Gefühlen befreit. "Da war nur noch der Schmerz, der mir gezeigt hat, dass ich noch lebe."

Immer mehr Jugendliche fügen sich Wunden zu, um sich selbst wieder zu spüren, um die Leere, die Angst, den Druck des Alltags zu überwinden.
Jeder vierte Jugendliche in Deutschland hat sich nach eigenen Angaben schon mindestens einmal absichtlich Schmerzen zugefügt, fand der Ulmer Kinder- und Jugendpsychiater Paul Plener in einer Studie heraus. Etwa neun Prozent der befragten Schülerinnen und Schüler im Alter von 14 bis 17 Jahren tun dies häufiger. Mädchen sind doppelt so oft betroffen wie Jungen.

Familiäre und psychische Probleme
Als Gründe nennt der Kinder- und Jugendpsychiater familiäre und psychische Probleme, aber auch einfach Neugierde oder den Gruppendruck in bestimmten Jugendkulturen, wie etwa in der "Gothic Szene".

"Riskant wird es, wenn das Ritzen der Problembewältigung dient", erklärt Plener. Eltern sollten ihre Kinder in jedem Fall ansprechen, wenn ihnen Wunden an den Armen oder blutige Handtücher im Bad
auffallen: "Leider bekommen viele Mütter und Väter es spät oder gar nicht mit, dass ihre Kinder sich selbst verletzen." Meist versteckten die Jugendlichen ihre Wunden unter langen Pullovern und gingen nicht mehr schwimmen. Erst, wenn sie in der Chirurgie landeten, weil sie sich zu tief geschnitten hätten, würden Eltern auf das Problem aufmerksam.

Geschockt und tief verunsichert, wüssten viele Angehörige nicht, wie sie reagierten sollten. Plener rät zu einem offenen Gespräch. "Für die Jugendlichen ist es oft eine Entlastung, wenn sie endlich über ihr Verhalten sprechen können." Möglichst früh sollte zu den Gesprächen zwischen Eltern und Kindern eine dritte Person hinzugezogen werden. Erziehungsberatungsstellen und Schulpsychologen könnten feststellen, ob eine Therapie nötig sei.

"Ich habe immer versucht, perfekt zu sein"
Francesca musste sogar zwei Mal stationär in eine Klinik. In der Therapie hat sie gelernt, anders mit Stress umzugehen. Heute kann sie in ihrer Familie die eigenen Bedürfnisse besser formulieren und sich abgrenzen. "Ich habe immer versucht, perfekt zu sein", sagt sie. "In der Hoffnung, dass wir dann eine harmonische Familie sind." Bald wird die 19-Jährige mit Unterstützung einer Betreuerin in eine eigene Wohnung ziehen.

Von Gewalt im Elternhaus, Vernachlässigung und Einsamkeit erzählt Francesca im Film "Lebenszeichen". Ihre Selbstverletzung ist auch ein Schrei nach Liebe und Geborgenheit, die ihr Vater und Mutter nicht gegeben haben. Sie selbst will gesund werden und ein normales Leben
führen: "Mit einem Mann, Kindern und einem Hund."

Von Sabine Damaschke (epd)