Im Flüchtlingslager von Calais leben Tausende auf engstem Raum

Ein gesetzloses Ghetto mitten in Europa

Sudanesen, Afghanen, Syrer - im Dschungel von Calais leben auf engstem Raum 10.000 Menschen unterschiedlicher Nationalität. Die größten Streitpunkte: Wohnraum, Fahrräder und Schuhe. Ein Tag im Camp mit Bruder Johannes.

Autor/in:
Franziska Broich
"London calling" neben dem Flüchtlingslager Calais / ©  Elisabeth Schomaker (KNA)
"London calling" neben dem Flüchtlingslager Calais / © Elisabeth Schomaker ( KNA )

Deutscher Hip-Hop mischt sich mit englischen und arabischen Wortfetzen, der Geruch von frischem Fladenbrot liegt in der Luft. Junge Afrikaner gehen den staubigen Weg entlang, vorbei an kleinen Läden und Restaurants. Die meisten haben es nicht eilig. In einer kleinen selbst gebauten Hütte verbringt Tourabe Marob (27) aus Afghanistan den Morgen zusammen mit einem Freund.

Es ist 11.00 Uhr im Flüchtlingscamp im nordfranzösischen Calais, das auch Dschungel genannt wird. Noch herrscht Ruhe. Calais ist der Ort, an dem viele Flüchtlinge versuchen, nach Großbritannien zu gelangen. Nur 50 Kilometer Ärmelkanal trennen die beiden Länder. Großbritannien ist in den Augen der Flüchtlinge das Paradies.

Marob freut sich, als er Bruder Johannes in seiner blauen Kutte sieht. "Salam", sagt der 44-jährige Mönch aus einem altkatholischen Orden in Belgien. Er lebt seit Oktober 2015 in Calais und kümmert sich täglich um die Flüchtlinge. Sein Job ist es nicht, Lebensmittel zu verteilen, sondern wärmende Worte. Er nimmt sich Zeit, hört den Menschen zu.

Traum von Großbritannien

Seit sieben Monaten lebt Marob in Calais. Erst bei einer Gastfamilie, nun im Camp. In seinem kleinen Shop verkauft er Limo, Süßigkeiten und andere Dinge für den täglichen Gebrauch. Er kauft sie in einem Discounter in Frankreich. Das Geld, das er einnimmt, schickt er an seine Frau und seine beiden Kinder, die noch in Afghanistan sind. An diesem sonnigen Spätsommertag ist er vorsichtig, möchte nicht vor seinem Laden fotografiert werden. Vor ein paar Tagen hat die Polizei alle Läden und Restaurants geschlossen.

Den Traum von Großbritannien, den so viele Einwohner des Flüchtlingslagers haben, hat Marob aufgegeben. Er hat Französisch gelernt und einen Asylantrag in Frankreich gestellt. Sein Freund, der auch etwas Deutsch spricht, möchte weiter. Für kurze Zeit habe er in Deutschland in einer Flüchtlingsunterkunft gelebt, erzählt er. Doch es sei ihm zu bürokratisch gewesen. Er wollte nicht warten, sondern sein Schicksal wieder selbst in der Hand nehmen. Deshalb zog er weiter. Wie er waren viele Flüchtlinge bereits in Deutschland: Sie sprechen ein wenig Deutsch oder hören deutschen Hip-Hop.

Plötzlich hebt jemand die blaue Plastikplane an, die das Dach der Hütte schützt. Hadi Khalil wird freundlich begrüßt. Der 57-Jährige ist eine Art Vorsitzender der Afghanen im Camp. Sie nennen ihn den "Community Leader". Jede Nation hat einen. Die Leiter treffen sich regelmäßig, besprechen Probleme, stehen in Kontakt zu den Nichtregierungsorganisationen im Lager und zur Polizei. "Die meisten Konflikte gibt es wegen Streits um Wohnraum, Fahrräder und Schuhe", sagt Bruder Johannes - alles Mangelware. Khalil hat Asyl in Frankreich erhalten und lebt nicht mehr im Camp. Trotzdem kommt er jeden Tag. Die afghanische Gemeinschaft ist ihm ans Herz gewachsen.

Es ist eng, es gibt Spannungen

In diesen Tagen wird Khalil besonders gebraucht. Hilfsorganisationen zufolge leben derzeit rund 10.000 Flüchtlinge im Lager; im Juni waren es noch 5.000. Es ist eng, es gibt Spannungen. Die staubigen Wege sind gesäumt von Zelten. Oft sind die Zeltschnüre aneinandergeknüpft, weil es keinen Platz gibt, sie im Boden zu befestigen. Das Lager, insgesamt etwa 16 Fußballfelder groß, ist in mehrere Bereiche aufgeteilt. In "Neu-Eritrea" leben die Flüchtlinge aus Eritrea, in einem anderen Bereich die Syrer. Die größte Gruppe seien derzeit die Sudanesen, gefolgt von den Afghanen, erklärt Johannes.

Aus einiger Entfernung ist der Ruf des Muezzin zu hören. Insgesamt gebe es im Camp fünf Moscheen, sagt Khalil und zeigt auf eine größere Hütte mit weißer Plastikplane. Das sei die afghanische Moschee. Religionszugehörigkeit führe jedoch selten zu Konflikten. "Die Religion vereint die Menschen im Dschungel", sagt Bruder Johannes.

Viele Menschen setzten sich auf der Flucht intensiv mit Fragen nach dem Sinn des Lebens auseinander. Die meisten hätten extreme Armut und Gewalt erlebt. "Oft sind die Flüchtlinge nach diesen Erlebnissen mehr verbunden mit Gott."

Das gilt auch für Henok Tewodros aus Äthiopien. Der 20-Jährige hat ein verschnörkeltes Kreuz auf dem linken Unterarm tätowiert. Er wohnt in einer Hütte direkt neben der äthiopisch-orthodoxen Kirche des Camps und ist der Maler der Kirche. Eines seiner Kunstwerke hängt am Eingang der Kirche. Es zeigt zwei Engel. Im Moment arbeite er an einem neuen Bild, sagt er stolz. Eine etwa zwei Meter große Leinwand zeigt Jesus beim Letzten Abendmahl mit seinen Jüngern.

Frankreich will räumen lassen

An diesem Freitag besuchte Frankreichs Innenminister Bernard Cazeneuve das Lager. Er ist entschlossen, weitere Teile räumen zu lassen. Bereits im März hatte die Regierung einen Bereich geräumt. Wo damals Zelte standen, wachsen heute Wildblumen. Über die Wiese geht Bruder Johannes nach Hause Richtung Stadt. Die Flüchtlinge bleiben. Frankreich überlasse sie nahezu sich selbst, kritisiert Johannes.

"Das Camp ist ein gesetzloser Bereich." Die Polizei greife nur in Notfällen ein; Verletzte müssten aus dem Camp getragen werden, weil Krankenwagen nicht hineinführen. Für Johannes der falsche Ansatz. Selbst wenn das Lager irgendwann geschlossen werde - "die Flüchtlinge werden immer da sein", sagt er.


Quelle:
KNA