Im Erzgebirge wohnt Europas einzige Türmerfamilie

20 Jahre auf dem Kirchturm

Seit er vor genau 20 Jahren die Schlüssel zu "seinem" Kirchturm bekam, hat Matthias Melzer viel erlebt: Hochzeit, Geburt des Sohnes, verlorene Socken - aber auch den ein oder anderen Blitzeinschlag.

Dohlen wurden wegen ihrer Vorliebe für Kirchtürme früher auch "des Pastors schwarze Taube" genannt, hier fliegen sie gerade mit einem Turmfalken um die Wette  / ©  Gerd Wellner  (Nabu)
Dohlen wurden wegen ihrer Vorliebe für Kirchtürme früher auch "des Pastors schwarze Taube" genannt, hier fliegen sie gerade mit einem Turmfalken um die Wette / © Gerd Wellner ( Nabu )

211 Stufen, dann ist es geschafft. Hoch über Sankt Annen, der größten gotischen Hallenkirche Sachsens, wohnt in 42 Meter Höhe die einzige Türmerfamilie in Europa, die ständig auf ihrem Turm lebt. Den luftigen Posten in der Großen Kirchgasse 21 in Annaberg-Buchholz fasste der junge Matthias Melzer schon früh ins Auge. Bereits mit zwölf Jahren versprach er der alten Türmerin, Frau Soltau: "Ich werde mal Ihr Nachfolger." Auch Freundin Marit fand das romantisch - am Anfang. Doch nachdem sie den Turm besichtigt hatte, stand für sie fest: niemals.

Das aber sollte man bekanntlich nie sagen. Über Jahre, während Matthias seit 1995 jeden Abend die gemeinsame Wohnung verließ, unverdrossen und ehrenamtlich den Turm erklomm und dort oben die Glocken läutete, reifte im Stillen ein Entschluss: Als Marit schließlich doch "Ja" zum Türmer-Dasein sagte, schrieb Matthias Melzer noch am selben Abend seine Bewerbung. Vor genau 20 Jahren, Anfang Februar 1999, erhielt er die Schlüssel der Kirchengemeinde.

Tradition reicht 500 Jahre zurück

Heute will die Türmerin des 20.500-Seelen-Ortes im Erzgebirge längst nicht mehr hinunter: "Vorher gab es 1.000 Gründe, nicht hochzuziehen; jetzt gibt es genau so viele, hier zu bleiben." Schon bald ist die Familie Melzer größer geworden: Sohn Toni Melzer (16) wurde zwar nicht im Turm geboren; doch schon nach drei Lebenstagen konnte auch er die Höhenluft genießen - und aus jedem Fenster einen Panoramablick übers Erzgebirge, garantiert unverbaubar.

Die Tradition der Türmer von Sankt Annen reicht mindestens 500 Jahre zurück: Schon für 1519, als im Erzgebirge das Silberfieber grassierte und die Boomtown Annaberg noch gar keinen echten Kirchturm besaß, ist die Besoldung eines Nachtwächters und Türmers belegt. Von spätestens 1578 bis 1995 war die Wohnung der Melzers ununterbrochen bewohnt.

Dennoch verstehen die beiden ihren Job nicht als Folklore-Veranstaltung für Touristen: "Wir tun den Dienst eines Türmers im 21. Jahrhundert." Tatsächlich ist Matthias Melzer selbst in der 157 Mann und Frau starken Europäischen Zunft der Nachtwächter und Türmer ein Exot: Als einziges Mitglied kümmert er sich ständig um das Glockenläuten. Den nostalgischen Türmerauftritt am Abend mit Kostüm, Horn und dem Ruf "Hört ihr Leut' und lasst euch sagen" übernimmt er nur bei Stadtfesten und ähnlichen Gelegenheiten.

Oben herrscht Promilleverbot

"Läuten ist keine Frage der Kraft, sondern der Technik", sagen die Glöckner von Annaberg. In der Tat sind die beiden eher schmächtiger Statur, erst recht im Vergleich zu ihren wuchtigen Schützlingen, die 2012 aufwändig restauriert wurden: Anna, Margarete, Peter und Paul bringen zusammen 5.163 Kilo auf die Waage. Für Anna, mit gut 59 Zentnern die kräftigste der drei, braucht es allein zwei ausgewachsene Glöckner. Das kleine Gebetsgeläut an Wochentagen ertönt automatisch. Dennoch: Die vier Schalltüren in alle Himmelsrichtungen müssen geöffnet werden, um den Klang zur Entfaltung zu bringen und das alte Gemäuer nicht über Gebühr zu erschüttern.

Tagsüber arbeiten die beiden Türmer als Landschaftsgärtner und Kunsthandwerkerin. Für ihren Gemeindedienst bekommen sie keinen Cent. "Man muss ja nicht alles für Geld tun", sagt Marit Melzer lakonisch. Im Sommer veranstaltet die Familie Grillfeste mit Freunden auf der Aussichtsplattform in 32 Metern Höhe. Elektrogrill und Alkoholfreies tun der Stimmung keinen Abbruch. Schon die Türmerordnung von 1843 verhängte ein totales Promilleverbot. Ab und zu schlägt bei Melzers auch schon mal der Blitz ein; doch das kann einen erzbegirgischen Türmer nicht erschüttern.

20 Jahre Wohnung in den Wolken

Ansonsten müssen die Melzers auf nichts verzichten. Ihre achteckige 80-Quadratmeter-Wohnung hat alles: Einbauküche, Dusche, Fernsehen. Telefon gibt es schon seit 1879. Per Seil werden Getränkekisten und andere Lasten behutsam an der großen Glocke vorbeigelenkt - denn sonst läge über Annaberg unmotiviertes Geläute. Ein weiterer Vorteil der Höhenlage: Wenn mal Besuch klingelt, kann man "zur Not noch schnell staubsaugen". Und: "Das Fitnessstudio ist bei uns in der Miete schon drin", sagt Mutter Marit.

Vor allem Touristen sind mit einer Besonderheit des Stadtbildes nicht immer vertraut. Ab und zu rufen besorgte Besucher bei der Gemeinde an: "Da hängt Wäsche auf Ihrem Kirchturm!" Tatsächlich bekommt hier oben der Begriff der Windhose eine ganz neue Dimension; die Kleidung trocknet in Rekordzeit. Da fällt gar nicht zu sehr ins Gewicht, wenn mal die ein oder andere Socke segeln geht. Es sind ja auch nur 211 Stufen...

20 Jahre Wohnung in den Wolken - und ein Ende ist nicht absehbar. Im Gegenteil: Der 49-jährige Matthias Melzer rechnet hoch, dass seine Vorgänger "so ungefähr bis 80" auf dem Turm geblieben seien. Und vorzeitig herunterzuziehen, damit sein Sohn die Türmerei in nächster Generation fortsetzen könnte, kommt für ihn nicht in Frage. Solange sie fit seien, wollen seine Frau und er bleiben. "Und ob der Toni dann mit 50 hoch zieht, nachdem er viele Jahre unten gelebt hat?" Da ist der Vater eher skeptisch. Aber vielleicht findet sich ja bis dahin ein Enkelkind, das dann Opa und Oma im Amt beerben kann.

Von Alexander Brüggemann 


Quelle:
KNA