KNA: Herr Hüppe, in Deutschland gilt seit kurzem die UN-Konvention für die Rechte Behinderter. Welche Konsequenzen hat das?
Hüppe: In Deutschland wird sehr viel getan. Dennoch bin ich der
Überzeugung: Wir müssen den Umgang mit behinderten Menschen völlig überdenken. Es kann nicht sein, dass wir sie erst aussondern, um sie dann mit viel Geld und Aufwand wieder einzugliedern.
KNA: Was heißt das konkret?
Hüppe: Das heißt als Zielvorgabe: Kinder mit und ohne Behinderung leben gemeinsam, spielen gemeinsam, gehen gemeinsam in die Schule, in Ausbildung und Beruf und sie wohnen in der Stadt mit anderen zusammen. Hier stehen wir erst am Anfang der Bemühungen.
KNA: Wie ist die Bildungssituation behinderter Kinder?
Hüppe: Die meisten Kinder mit sogenanntem «sonderpädagogischen Förderbedarf» werden in Sonderschulen unterrichtet. Nur 15 Prozent dieser Kinder und Jugendlichen besuchen allgemeine Schulen. Die Zahl der Sonderschüler nimmt sogar noch zu, obwohl insgesamt die Schülerzahlen sinken.
KNA: Die Kultusministerkonferenz will sich mit dem Thema befassen. Was erwarten Sie von den Bildungsministern?
Hüppe: Ein Ende der «Ausgrenzung» und die umgehende Schaffung eines inklusiven Schulsystems. Das bedeutet, die Schule am Ort ist für jedes Kind zuständig, egal ob mit oder ohne Behinderung. Dazu sind sie durch die UN-Konvention bereits jetzt verpflichtet.
KNA: Dennoch gibt es deutliche Vorbehalte.
Hüppe: Aber nur bei denen, die keine Beispiele aus der Praxis kennen. Auch ich hatte diese Vorbehalte. Nach dem Besuch zahlreicher Einrichtungen und vielen Gesprächen mit Lehrern, Schülern und Familien kann ich nur sagen, je länger wir warten, desto mehr Chancen verpassen unsere Kinder.
KNA: Wie soll aber ein gemeinsamer Unterricht funktionieren?
Hüppe: Bei der Stoffvermittlung geht es vor allem darum, den einzelnen Schüler nach seinen Fähigkeiten zu fördern. Das bedeutet eine weitgehende Veränderung der Unterrichtsmethoden, weg vom Frontalunterricht hin zu Projektunterricht. Studien zeigen, dass genau dieser Ansatz der individuellen Förderung - wie ihn die Pisa-Studien seit Jahren fordern - allen zugute kommt. Deshalb steigen auch die Leistungen der anderen Kinder. Die Kinder mit einer Behinderung haben dabei Anspruch auf angemessene Vorkehrungen, um barrierefrei lernen zu können.
KNA: Und wie verläuft der gemeinsame Umgang?
Hüppe: Hier liegt ein weiterer Vorteil: Die Kinder lernen von Anfang an größere Rücksichtnahme, Toleranz und Akzeptanz. Der Umgang wird selbstverständlich: Bislang haben die wenigsten gelernt, wie sie einem Contergan-Geschädigten die Hand geben, einen Blinden führen oder wie sie sich mit einem sogenannten «geistig behinderten Menschen» unterhalten können. Die Kinder lernen, sich gegenseitig einzuschätzen. Sie lernen aber vor allem, dass der Mensch nicht perfekt sein muss, um angenommen zu werden. Dies ist eine unspektakuläre Erziehung zur Humanität, ohne große Moralpredigten.
KNA: Es geht also nicht um den Verzicht auf sonderpädagogischen Förderbedarf.
Hüppe: Es geht um den Verzicht auf getrennte Lebenswelten. In Deutschland werden die Sonderwege gefördert. Dort erhalten Betroffene alle Hilfen. Ich fordere, dass die Hilfen dort zur Verfügung gestellt werden, wo das Kind ist, so dass es nicht in eine Sondereinrichtung gehen muss.
KNA: Finden Sie in der Politik Unterstützung?
Hüppe: Horst Köhler war ein großartiger Förderer. Aber auch Spitzenpolitiker wie etwa Sozialministerin Ursula von der Leyen sprechen sich für inklusive Bildung aus. Es wäre schön, wenn gerade kirchliche Schulen eine Vorreiterrolle einnehmen könnten.
KNA: Wann sollte es losgehen?
Hüppe: Heute, die Kinder stehen vor der Tür.
KNA: Und wie sieht es im Ausland aus?
Hüppe: Deutschland bildet das Schlusslicht. In vielen Ländern ist das Verhältnis umgekehrt, dort gehen 90 Prozent der Kinder mit Behinderung in allgemeine Schulen. Es gibt keinen Grund, diese Kinder hierzulande vor der Schule stehen zu lassen.
Interview: Christoph Scholz
Hüppe: Kinder mit und ohne Behinderung gemeinsam unterrichten
"Ende der Ausgrenzung"
Heute will sich die Kultusministerkonferenz in Bremen mit der Frage eines gemeinsamen Unterrichts von Kindern mit und ohne Behinderung befassen. Der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, Hubert Hüppe, verlangt, auch Kinder mit Behinderung umgehend in allgemeinen Schulen zu unterrichten.
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