Hospizdienst-Leiterin fordert Stärkung der Suizidprävention

"Lasst uns Anwälte für das Leben sein"

Eine Normalisierung der Beihilfe zum Suizid würde nach Überzeugung von Kerstin Kurzke den Druck auf jene erhöhen, die sich ohnehin als Last empfinden. Sie fordert stattdessen einen Beratungs- und Begleitungsprozess.

Autor/in:
Christoph Scholz
Ein Mann in einem Hospiz (epd)
Ein Mann in einem Hospiz / ( epd )

KNA: Was führt einen Menschen dazu, sich um Sterbende zu sorgen?

Kerstin Kurzke (Leiterin der Hospiz- und Trauerarbeit der Malteser in Berlin): Wesentlich war meine Erfahrung als 16-/17-Jährige. Damals begleitete ich meine krebskranke Großmutter im Krankenhaus. Mir wurde klar, wie wichtig dieser Lebensprozess des Abschiednehmens ist. Mit 18 Jahren habe ich mich für Hospizarbeit entschieden und bin nach dem Sozialpädagogikstudium mit 24 Jahren in die Hospizarbeit gegangen.

Kerstin Kurzke, Leiterin der Hospiz- und Trauerarbeit der Malteser in Berlin / © Darius Ramazani (KNA)
Kerstin Kurzke, Leiterin der Hospiz- und Trauerarbeit der Malteser in Berlin / © Darius Ramazani ( KNA )

KNA: Sie leiten inzwischen die Hospiz- und Trauerarbeit der Malteser in Berlin mit einem Team von elf Fachkräften und mehr als 180 ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern. Was tun Sie konkret?

Kurzke: Wir begleiten im Jahr rund 400 schwerkranke und sterbende Menschen ambulant und unterstützen Trauernde.

KNA: Was bedeutet Abschied nehmen?

Kurzke: Sich nochmals an die schönen und schweren Zeiten im Leben erinnern, den Wert von Beziehungen zu erleben und vieles mehr. Oft ist es eine gemeinsame Rückschau mit Angehörigen.

KNA: Wie kommt es zu einem Wunsch, sich selbst zu töten?

Kurzke: Nach meiner Erfahrung entspringt der Suizid dem verständlichen Wunsch, einem Leben zu entkommen, das als unerträglich empfunden wird. Ein Patient offenbarte mir einmal unter Tränen, er wolle seinem Leben ein Ende setzen, weil seine Krankheit so aussichtslos sei. Für ihn war sie ein solcher Horror, dass er den Suizid als kleineres Übel ansah, obwohl er ihm ebenfalls Angst machte. Dahinter steht also nicht die Aussage, ich will jetzt sterben, sondern: So wie mein Leben jetzt ist, halte ich es nicht mehr aus.

KNA: Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts setzt bei der Entscheidung ganz auf Autonomie und Selbstbestimmung. Wird das der Lebenswirklichkeit gerecht?

Kurzke: Ich empfinde das als sehr abgehoben. Es entspricht einem bestimmten Gesellschaftsbild, wo man leistungsstark, autonom, selbstbestimmt sein soll. Umso mehr fühlen sich viele Menschen, zu denen wir gehen, in ihrer Schwäche nur noch als Last. Sie haben das Gefühl, ohne sie wäre es einfacher. Das ist fatal. Gerade in schwierigen Lebenssituationen - wie Liebeskummer, einer schweren Krankheit, Arbeitsplatzverlust - merken wir doch, wie sehr wir in Beziehungen und aus Beziehungen leben. Wir brauchen einander.

KNA: Was bedeutet das im Sterben?

Kurzke: Eine schwer erkrankte Frau sagte mir einmal: Sie hat jetzt unter sich ein Netz, das ausgespannt ist zwischen der Familie, den Freunden, den Ärzten, den Therapeuten. Alle halten dieses Netz, und deshalb kann sie sich fallen lassen.

KNA: Wie erleben Sie aus Ihrer Tätigkeit heraus die Diskussion um die Beihilfe zum Suizid?

Kurzke: Wenn jemand auf der Brücke jenseits des Geländers steht, sich aber noch festhält, ist der menschlichste Impuls, ihn wieder zurückzuholen - und nicht darüber zu sprechen, wie man möglichst schonend das Geländer entfernen kann.

KNA: Welche Rolle spielen die Angehörigen?

Kurzke: Für sie ist die Begleitung im Sterbeprozess ebenso wichtig. Ihre Perspektive kommt aber wegen der Fokussierung auf die Selbstbestimmung viel zu kurz. Ein Suizid kann bei ihnen schwere Belastungen auslösen, wie eine jüngste Fallstudie aus der Schweiz zeigt. Sie erleben Verlustängste und Schuldgefühle; also mitschuldig daran zu sein, dass das Leben nicht mehr als lebenswert erlebt wird. Auch für sie ist der Suizid ein gewaltsamer Eingriff in das Leben.

KNA: Wie oft begegnen Sie dem Wunsch nach einem Suizid in Ihrer Arbeit?

Kurzke: Eher seltener wird das ganz ausdrücklich formuliert. Es geschieht eher in Schattierungen von Todeswünschen. Das reicht von einfachen Aussagen wie: Jetzt ist auch mal gut, oder: Wann ist es endlich soweit, bis zu: Ich kann nicht mehr, ich will abschließen. Die Fragen tauchen immer wieder auf, vor allem beim ersten Besuch.

KNA: Wie gehen Sie damit um?

Kurzke: Wir fragen konkret nach. Es gibt verschiedene Methoden, sich dem Thema zu nähern, etwa die "Angsttorte": Die Patienten sagen uns, was für sie bedrückend ist und wie groß dieses Stück ist: Schmerzen, Luftnot, die Sorgen um die pflegende Tochter mit ihrem kleinen Kind, Finanzen oder anderes. Dann schauen wir uns jedes Stück an und suchen nach Lösungen. So entsteht eine Vertrauensbeziehung, in der die Sorgen immer offener zur Sprache kommen können. Gleichzeitig zeigt sich, dass es doch noch schöne Dinge gibt, Lebensqualität. Mir sagte eine Patientin: "Also tot bin ich dann lange genug. Jetzt möchte ich das Leben noch genießen."

KNA: Was sind Ihre wichtigsten Forderungen an den Gesetzgeber?

Kurzke: Dass es vor der Frage nach der Organisation der Suizidassistenz um einen Beratungs- und Begleitungsprozess gehen muss. Deshalb fordern alle Fachleute und Verbände ein eigenes Suizidpräventionsgesetz. Hierzu gibt es klare Vorschläge zu Anlaufstellen, Therapeuten und einer sicheren Finanzierung. Es sollte eine verbindliche Vermittlung zu diesen Angeboten geben, die völlig unabhängig von der Suizidassistenz sein müssen.

KNA: Haben Sie Verständnis für Todeswünsche?

Kurzke: Es gibt wirklich schwierige Krankheitsverläufe und furchtbare Beschwerden. Aber die palliative Medizin kann inzwischen Linderung verschaffen bis hin zur palliativen Sedierung. Die Menschen schlafen. Es geht nicht um eine Lebensverlängerung um jeden Preis, sondern um ein würdiges Sterben. Dazu braucht man aber nicht den assistierten Suizid.

KNA: Kritiker sehen aber in einer dauerhaften Sedierung und dem Suizid keine Alternative.

Kurzke: Der Unterschied ist aber so fundamental wie eben zwischen einem Schlafenden und einem Toten. Es ist doch keine theoretische Frage, ob ich zum Lindern des Leides das Leben des Leidenden beende oder ihm Erleichterung verschaffe. Zudem wächst dadurch der gesellschaftliche Druck auf jene, die sich ohnehin als Last fühlen.

KNA: Welche Folgen hätte eine Normalisierung?

Kurzke: So viele Menschen sagen uns, sie seien nur eine Last, ihr Leben habe ja gar keinen Wert mehr. Dieser Druck wird wachsen. Der Blick ins Ausland zeigt, dass die Nachfrage wächst und die gesellschaftliche Solidarität brüchiger wird. Die Gesundheitskosten sind übrigens in den letzten Lebensjahren am höchsten.

KNA: Das Suizidangebot soll aber laut Befürwortern gerade brutale Suizide verhindern, wie den Sprung vor den Zug.

Kurzke: Das sind Affekthandlungen, nicht überlegte Suizide. Auch hier zeigt der Blick in Länder mit liberaler Regelung: Die brutalen Suizide nehmen nicht ab, aber die assistierten Suizide nehmen zu. Wer brutale Suizide aufrichtig verhindern will, muss die Prävention ausbauen.

KNA: Wie prägt die Vorstellung vom alltäglichen Suizid eine Gesellschaft?

Kurzke: Wir können uns weniger vorstellen, dass das Leben auch in schwierigen Situationen lebenswert ist. Deshalb wird für immer neue Gruppen die Suizidassistenz gefordert. Ein niederländischer Journalist hat darüber berichtet, wie stolz er zunächst auf die liberale Gesetzgebung in seinem Land war. Als sein Lebenspartner aber einen Hirntumor bekam, sei er schockiert gewesen, wie statt Mitleid von vielen Seiten geäußert wurde, dass er ja jetzt Suizid begehen könne.

KNA: Die Kirche fordert die ausdrückliche Zusicherung des Gesetzgebers, dass weder Einzelpersonen noch Institutionen zur Suizidassistenz verpflichtet werden dürfen. Wieso?

Kurzke: Wir wollen Räume anbieten, wo jeder gewiss sein kann, in keiner Weise mit Suizidangeboten konfrontiert zu werden. Denn mit einem solchen Angebot ändert sich die Form der gesamten Sterbebegleitung.

KNA: Inwiefern?

Kurzke: Wenn ich nochmals das Bild des Netzes nehmen darf: In Extremsituationen der völligen Angewiesenheit ist es für Betroffene äußert wichtig zu wissen, dass wirklich jede Masche hält. Eine junge Frau, die lange Zeit mit Depressionen kämpfte, hat später berichtet, wie wichtig ihr gerade in den tiefsten Phasen die Gewissheit war, dass die Therapeuten bedingungslos für ihr Leben gekämpft haben. Oder umgekehrt: Wenn selbst die Anwälte für mein Leben unschlüssig sind, wieso sollte ich dann noch an mein Leben glauben. Deshalb haben wir nur die Bitte: Last uns diejenigen sein, die alles für die Leute tun und sie stärken, dass sie wieder an sich glauben.

KNA: Welche Bedeutung hat für Sie persönlich der religiöse Glaube?

Kurzke: Er ist mir eine große Kraftquelle. Ich ziehe daraus viel Kraft und auch Gelassenheit. Wir sind begleitet, ich fühle mich begleitet.

Das Interview führte Christoph Scholz.

Bundestag berät erstmals über Gesetzentwürfe zur Sterbehilfe

Mehr als zwei Jahre nach einem wegweisenden Urteil des Bundesverfassungsgerichts hat sich der Bundestag am Freitag mit konkreten Vorschlägen zur Regelung der Sterbehilfe in Deutschland befasst.

Hintergrund ist ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das 2020 ein seit 2015 bestehendes Verbot der geschäftsmäßigen Sterbehilfe gekippt hatte, da es das Recht des Einzelnen auf selbstbestimmtes Sterben verletzte. Dabei hat "geschäftsmäßig" nichts mit Geld zu tun, sondern bedeutet "auf Wiederholung angelegt".

Blick in den Plenarsaal im Deutschen Bundestag / © Michael Kappeler (dpa)
Blick in den Plenarsaal im Deutschen Bundestag / © Michael Kappeler ( dpa )
Quelle:
KNA