Caritas-Chef für Einführung einer Kindergrundsicherung

"Hohe Beratungszahl lässt auf große seelische Not schließen"

Die Corona-Pandemie hat laut Caritas-Präsident Peter Neher vor allem Familien mit kleinem Einkommen stark belastet. Die nächste Bundesregierung müsse sie stärker unterstützen und etwa eine Kindergrundsicherung einführen, forderte Neher.

Ein trauriges Kind / © JACEK SKROK (shutterstock)

KNA: Welche Maßnahmen muss die nächste Bundesregierung in Angriff nehmen, um Familien nach eineinhalb Jahren Pandemie besser zu unterstützen?

Prälat Peter Neher (Caritas-Präsident): Die Corona-Krise hat die Familien besonders hart getroffen.

Defizite wie fehlende verlässliche Betreuung von Kita- und Grundschul-Kindern und die unzureichende Digitalisierung wirkten sich für sie besonders aus. Notwendig ist es deshalb, dass die Zahl der Betreuungsplätze weiter ausgebaut wird. Das Gesetz zur verlässlichen Betreuung von Kindern in Grundschulen ist in dieser Legislaturperiode gescheitert. Auch das müsste noch einmal in Angriff genommen werden.

KNA: Homeoffice und Homeschooling in Einklang zu bringen, war vor allem für Familien mit kleinem Einkommen schwierig...

Neher: Die Pandemie hat erneut vor Augen geführt, wie sehr die Bildung von der sozialen Herkunft abhängt. Dieses Thema treibt mich seit Jahren um. Es ist etwas grundlegend anderes, ob Kinder digitale Endgeräte und ein eigenes Zimmer haben oder ob sie sich den Laptop mit ihren Geschwistern am Küchentisch teilen müssen. Deshalb müssen Familien mit kleinem Einkommen bei der Finanzierung digitaler Endgeräte unterstützt werden. Zudem muss der soziale Wohnungsbau weiter angekurbelt werden. Was bislang geschehen ist, reicht bei weitem nicht.

KNA: Einige Parteien fordern schon seit längerem eine Kindergrundsicherung für Familien mit kleinem Einkommen. Wäre das ein richtiger Schritt?

Neher: Ja, auf jeden Fall. Der Deutsche Caritasverband plädiert schon lange für eine eigenständige Absicherung von Kindern, die diese vor Armut bewahrt. Ich kann es selbst kaum ertragen, dass Politiker regelmäßig vor die Kamera treten und betonen, wie schlimm sie Kinderarmut finden, sich aber nichts Grundlegendes ändert.

KNA: Inzwischen belegen Zahlen, dass gerade bei Kindern und Jugendlichen die psychischen Folgen der Pandemie erheblich sind. Können Sie schon sagen, wie sich das in den Beratungsstellen der Caritas widerspiegelt? Und: Welche Hilfsmaßnahmen braucht es?

Neher: Grundsätzlich brauchen wir einen Ausbau der Kinder- und Jugendhilfe sowie der Beratungsstellen. Da ist eine dauerhafte finanzielle Förderung notwendig.

Konkret zur Caritas: Zusätzlich zu den vielen Rückmeldungen unserer Kolleginnen und Kollegen vor Ort sind hier die Zahlen der Neuregistrierungen für unsere digitalen Beratungsangebote ein guter Indikator. Die Anmeldungskurve im Beratungsfeld "Eltern und Familie" liest sich wie ein Tagebuch der Lockdown-Bestimmungen: Die Zahlen waren im Frühjahr 2020 hoch - mit etwa 600 Neuanmeldungen im Monat.

Nach einem Plateau im Sommer und Herbst sind sie ab Dezember wieder gestiegen.

Im Mai 2021 waren es über 700 Familien, die sich neu an unsere Beraterinnen und Berater online gewendet haben, im Juni noch über 600. Hinter diesen Zahlen stehen Sorgen, die sich Eltern über ihre Kinder machen, oder Familienkonflikte, die hochkochen. Für unser Angebot der Suizidpräventionsberatung für junge Menschen "U25" melden sich jeden Monat über 200 Menschen neu an, und das Nachrichtenaufkommen, also der Austausch zwischen Ratsuchenden und Beraterinnen und Beratern, ist dort besonders hoch. Das lässt auf eine große seelische Not der jungen Menschen schließen.

KNA: Auch SPD und Grüne, die in der damaligen rot-grüne Bundesregierung vor über 15 Jahren die Hartz-IV-Reformen beschlossen, fordert inzwischen deren Überwindung. Wäre das hilfreich?

Neher: Als Verband haben wir immer vor einer pauschalen Verurteilung der Hartz-IV-Reformen gewarnt. Die Zusammenlegung von Sozial- und Arbeitslosenhilfe war ein wichtiger Schritt, weil damit Menschen, die nicht erwerbstätig sind, nicht länger einfach abgeschrieben wurden, sondern man sich bemühte, ihr Potenzial weiterzuentwickeln.

KNA: Und das "aber"?

Neher: Zugleich gibt es natürlich Kritikpunkte. So brauchen wir dringend einen anderen Zugang zum Thema Sanktionsmanagement. Es ist beispielsweise nicht förderlich, wenn Jugendliche sanktioniert und ihnen Gelder gestrichen werden und sie in der Folge davon völlig den Boden unter den Füßen verlieren.

Zudem ist eine Neuberechnung des Regelbedarfs notwendig. Dabei sollte die verdeckte Armut herausgerechnet werden. Denn derzeit wird das Einkommen von Familien, wenn es knapp über der Armutsgrenze liegt, mit einbezogen, so dass dadurch der Regelsatz nach unten gezogen wird. Es muss ein eigenes Budget für größere Anschaffungen wie eine Waschmaschine geben. Es ist nicht möglich, dass sich die Menschen dieses Geld von ihrem Regelsatz absparen müssen. Insgesamt ist eine neue gesellschaftliche Debatte über unsere Hilfssysteme notwendig.

KNA: Was sind Ihre Forderungen beim Thema Altersarmut?

Neher: Wir müssen endlich die Basis derjenigen verbreiten, die in die gesetzliche Rentenkasse einzahlen. Das Ziel muss sein, dass sich auch Beamte, Politikerinnen und Politiker und Selbstständige beteiligen.

Nur dann können auch Minijobber und prekär beschäftigte Menschen ausreichend abgesichert werden. Eine Besserstellung brauchen wir zudem für pflegende Angehörige. Wir müssen es schaffen, allen ein Leben in Würde im Alter zu ermöglichen.

KNA: Vor der vergangenen Bundestagswahl war die sogenannte Flüchtlingskrise ein großes Thema. Davon ist jetzt nichts mehr zu hören. Ist die Integration im Großen und Ganzen gelungen?

Neher: Vieles ist gelungen. Viele derjenigen, die 2015 kamen, sind inzwischen zum Beispiel in sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen. Die großen Sorgen, die es damals gab, haben sich als unbegründet erwiesen. Dank vieler haupt- und ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer ist auch ein gesamtgesellschaftlicher Kraftakt weitgehend gelungen.

Trotzdem gibt es noch viele Probleme. Stichwort Familiennachzug: Aktuell warten über 10.000 Familienangehörige auf einen Termin zur Antragsstellung. Auch die Situation in den Ankerzentren, die für Asylsuchende in einigen Bundesländern eingerichtet wurden, ist schwierig. Die Menschen müssen dort teilweise monatelang ausharren.

Und nach wie vor haben sich die EU-Länder nicht auf eine gemeinsame Flüchtlingspolitik verständigen können. Auch da besteht dringender Handlungsbedarf.

KNA: In den vergangenen Monaten Ihrer Amtszeit haben Sie besonders den Klimaschutz zum Thema gemacht - die Neuwahlen finden im November statt. Was sind da Ihre wichtigsten Forderungen?

Neher: Wir müssen unbedingt den CO2-Ausstoß verringern. Wir sehen ja, dass nicht nur der Planet, sondern die Menschen, allen voran die Schwächsten, unter der Klimakrise leiden. Die bisher eingeleitete CO2-Bepreisung springt viel zu kurz. Es braucht eine höhere CO2-Bepreisung mit einem Ausgleich für alle Haushalte. Und die Politik muss alle Subventionen an fossile Energieträger genau unter die Lupe nehmen. Sozial-gerechter Klimaschutz ist eine der größten Herausforderungen für die nächste Legislatur.

Das Interview führte Birgit Wilke.


Peter Neher, Präsident des Deutschen Caritasverbandes  / © Harald Oppitz (KNA)
Peter Neher, Präsident des Deutschen Caritasverbandes / © Harald Oppitz ( KNA )
Quelle:
KNA
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