Historikerin Erkenbrecher forscht zu Krieg und Aussöhnung

"Einen Schlussstrich wird es nicht geben"

Im Juni 1944 verübten SS-Truppen in Oradour-sur-Glane das schlimmste Massaker der Deutschen in Westeuropa. Dabei kamen 643 Zivilisten ums Leben. Heutzutage sind die Ruinen eine Gedenkstätte, erklärt Historikerin Andrea Erkenbrecher.

Das französische Dorf Oradour-sur-glane wurde im Zweiten Weltkrieg vollständig zerstört / © Krzysztof Stefaniak (shutterstock)
Das französische Dorf Oradour-sur-glane wurde im Zweiten Weltkrieg vollständig zerstört / © Krzysztof Stefaniak ( shutterstock )

Sie hat jahrelang über die Folgen des Kriegsverbrechens geforscht und noch bis vor kurzem als Expertin der deutschen Polizei und Staatsanwaltschaft bei dem Versuch geholfen, noch lebende Täter juristisch zur Rechenschaft zu ziehen. Gerade ist Erkenbrechers umfangreiche Studie "Oradour und die Deutschen" erschienen.

KNA: Unlängst ist mit Robert Hebras der letzte prominente Überlebende des Massakers von Oradour sur-Glane 1944 gestorben. Bedeutet das eine Zäsur im Gedenken an die damals verübten Gräueltaten der Deutschen?

Andrea Erkenbrecher (Historikerin): Robert Hebras wurde eine Symbolfigur für die deutsch-französische Aussöhnung nach dem Zweiten Weltkrieg. Wenn Jugendliche oder Erwachsene mit ihm durch die Ruinen von Oradour gegangen sind, ist eine besondere Verbindung entstanden zwischen diesem Ort, dem Überlebenden und jenen, die ihn begleiteten. Robert Hebras brachte die Ruinen zum Sprechen und nahm die Menschen mit seiner Freundlichkeit ein. Das fällt nun weg. Aber ich glaube, dass Erinnerung und Gedenken auch ohne Zeitzeugen funktionieren kann.

KNA: Wie meinen Sie das?

Erkenbrecher: Es geht etwas verloren. Aber es öffnen sich auch neue Türen. Ich habe zum Beispiel die Hoffnung, dass mehr Menschen in den Fokus kommen, die sozusagen im Schatten von Robert Hebras standen und bislang wenig erzählt haben. Neben den noch wenigen Überlebenden etwa jene, die bei dem Massaker Familienangehörige verloren haben. Und dann vor allem die zweite Generation, die aufgewachsen ist mit dem Trauma der Eltern. Die haben uns viel zu sagen. Denn mit dem Sterben der Generation, die das Massaker erlebt hat, ist das Kapitel Oradour ja nicht beendet. Einen Schlussstrich wird es nicht geben.

KNA: Woher speist sich Ihr Urteil?

Erkenbrecher: Ich habe in den vergangenen Jahren auf Täter- wie auf Opferseite vermehrt mit Kindern und Enkeln zu tun gehabt. Sie erzählen uns andere Geschichten. Die sind nicht weniger wichtig. Denn sie gestalten unsere Gegenwart, prägen das deutsch-französische Verhältnis heute. Es entsteht also ein neuer Platz, und ich glaube, dass wir den sinnvoll füllen können.

KNA: Welche Rolle spielten eigentlich die Kirchen bei der Aufarbeitung von Oradour und dem Aufbau der deutsch französischen Freundschaft?

Erkenbrecher: Bereits sehr bald nach dem Massaker haben Vertreter der evangelischen und katholischen Kirche in Frankreich die Bühne in Oradour betreten. Was den Versöhnungsaspekt anbelangt, spielte die katholische Kirche lange Zeit eine durchaus prominente Rolle. Ich denke in diesem Zusammenhang unter anderem an die Friedensbewegung Pax Christi, die gerade in Oradour sehr engagiert war und Versöhnungsgottesdienste mit deutsch-französischer Besetzung gefeiert hat. Heute spielt das allerdings kaum mehr eine Rolle.

KNA: Sie haben sich auch an den 2011 wieder aufgenommenen Ermittlungen beteiligt, um noch überlebende Täter zur Rechenschaft zu ziehen. Diese Ermittlungen wurden - letztlich ergebnislos - im vergangenen Jahr eingestellt. Wie blicken sie auf die juristische Aufarbeitung von NS-Verbrechen?

Erkenbrecher: Die Frage ist, an was man die Aufarbeitung misst. Wenn man die deutsche Aufarbeitung von NS Verbrechen vergleicht mit der Aufarbeitung von Kriegsverbrechen in anderen Ländern mag man zu dem Schluss kommen, dass das alles gar nicht so schlecht gewesen ist. Das kriegt natürlich einen ganz anderen Dreh, wenn man fragt, wie das für die Opfer gewesen ist. Auf Oradour bezogen würde ich bilanzieren: Ein Ruhmesblatt war das nicht. Von Anfang an wäre mehr möglich gewesen. Zugespitzt gesagt: Als man konnte, wollte man nicht - und als man wollte, konnte man nicht mehr.

KNA: Im ukrainischen Butscha sollen russische Soldaten mehr als 400 Zivilisten umgebracht haben. Lassen sich für die juristische Aufarbeitung Lehren aus Oradour ziehen?

Erkenbrecher: Butscha beschäftigte mich, weil es unter einem bestimmten Blickwinkel Ähnlichkeiten hat mit Oradour. Ich fühlte mich erinnert an meine Arbeit für die Staatsanwaltschaft. Wir haben versucht, einzelne Tötungsdelikte einzelnen Soldaten zuzuordnen. Das erwies sich als äußerst schwierig, auch weil die frühen französischen Ermittlungen in Oradour für uns zentrale Fragen offen ließen. Vor diesem Hintergrund finde ich es gut, dass man zügig Experten-Teams nach Butscha geschickt hat, die alles untersuchen und protokollieren. Sie tragen Wissen zusammen, auf das man später zurückgreifen kann.

KNA: In Deutschland mehren sich - vor allem bei der AfD - Rufe nach einem Ende der Vergangenheitsbewältigung. Die zwölf Jahre unter Adolf Hitler dürften den Blick auf die deutsche Geschichte nicht verstellen, heißt es gern. Was hält die Historikerin davon?

Erkenbrecher: Woran will man messen, dass wir zu Ende aufgearbeitet haben? An den Regalmetern an Forschungsliteratur? Woran misst man erfolgreiche Vergangenheitsbewältigung? Daran, wie viele Schulklassen NS-Gedenkstätten besucht haben? Ich bin der Überzeugung, dass sich jede Generation neu mit der Vergangenheit auseinandersetzen muss. Es ist ja nicht so, dass die Kinder immun sind gegen Diktatur und Massengewalt, nur weil sich ihre Eltern mal in der Schule mit der Vergangenheit beschäftigt haben.

KNA: Bei den Demonstrationen gegen Waffenlieferungen an die Ukraine erinnert manches an die Friedensbewegung der 80er Jahre - bis hin zu Parolen wie «Nie wieder Krieg» oder «Frieden schaffen ohne Waffen».

Erkenbrecher: Auch in diesem Fall würde ich zunächst einmal fragen: Was heißt das? Die einen meinen damit, dass es nie wieder Krieg geben soll, unter gar keinen Umständen. Andere dagegen sagen: Nie wieder soll von deutschem Boden ein Krieg ausgehen. Das ist ein Unterschied. Trotzdem muss sich beides nicht notwendigerweise widersprechen. Wir leben heute in einer anderen Welt als in den 80er Jahren und müssen uns darüber verständigen, was «Nie wieder» heißt. Als Historikerin sehe ich meine Aufgabe in erster Linie darin, die Zusammenhänge aufzuzeigen, in denen solche und andere Forderungen entstanden sind.

Das Interview führte Joachim Heinz .

Stichwort: Kriegsverbrechen

"Kriegsverbrechen sind Verstöße gegen das Völkerrecht, die bei der Führung eines Krieges von den Krieg führenden Parteien begangen werden oder in engem Zusammenhang mit der Kriegsführung stehen. Verbrechen, die lediglich in zeitlichem oder örtlichem Zusammenhang mit Kampfhandlungen stehen, aber keine oder nur eine schwache ursächliche Verbindung damit haben, werden nicht als Kriegsverbrechen bezeichnet. Voraussetzung für das Vorliegen von Kriegsverbrechen ist ein internationaler oder nichtinternationaler bewaffneter Konflikt.

Justiz Kirche Kirchenasyl Kirchenrecht Gericht Rechtsprechung / © manfredxy  (shutterstock)
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Quelle:
KNA