Historiker: Viele Deutsche haben von den Verbrechen gegen Armenier gewusst

Diagnose Völkermord

Handelt es sich bei dem Verbrechen gegen die Armenier um einen "Völkermord"? Der Historiker und Theologe Michael Schwartz erklärt im domradio.de-Interview, warum der große Teil der Wissenschaft tatsächlich von einem "Völkermord" spricht.

Gedenken an Opfer des Völkermordes / © Sedat Suna (dpa)
Gedenken an Opfer des Völkermordes / © Sedat Suna ( dpa )

domradio.de: Die Türkei sagt, dass die Wissenschaft noch nicht entschieden hat, ob es sich um einen Völkermord handelt - warum?

Prof. Michael Schwartz (Historiker und Theologe vom Institut für Zeitgeschichte in München und Berlin): Ich glaube, das ist zunächst einmal ein taktisches Argument, um die Diskussion von der politischen Ebene, wo sie sich jetzt durch die Befassung ausländischer Parlamente befindet, wieder zurückzuspielen auf eine wissenschaftliche Ebene. Die Aussage ist aber irreführend, denn es ist ja nicht so, als ob die Wissenschaft sich nicht schon seit Jahrzehnten mit dieser Frage befasst hätte und sich nicht eine überwiegende Meinung zu diesen Fragen gebildet hätte.“

domradio.de: Was rechtfertigt denn die Bezeichnung "Völkermord" für das Verbrechen?

Prof. Schwartz: Zum Einen gibt es eine völkerrechtliche Ebene: Das wäre die Völkermord-Konvention der Vereinten Nationen, die nach dem Zweiten Weltkrieg erarbeitet worden ist. Anhand dieser Definition kann man natürlich überprüfen, ob sich auch im Falle der Armenier-Verfolgung im Ersten Weltkrieg Kriterien für Völkermord ergeben. Das sind vor allem massenhafte Tötungen von Mitgliedern eines Volkes, sei es durch direkte Verursachung, sei es durch vorsätzliche Auferlegung tödlicher Lebensbedingungen. Es kommen auch noch einige andere Punkte dazu, die wir als Wissenschaftler eher als Zwangsassimilation bezeichnen würden. Wenn man sich die Kerndefinitionen der Völkermord-Konvention anschaut, dann scheinen sie auf den Fall der Armenier zuzutreffen. Darüber hinaus gibt es wissenschaftliche Definitionsversuche, die sich zum Teil mit der Völkermord-Konvention überlappen, sich zum Teil auch unterscheiden. Hier geht es vor allem darum, ob wir einen politisch und militärisch organisierten massenhaften Tötungsversuch durch einen Staat oder staatsähnliche Organisationen vorfinden können, die auf eine Tötungsabsicht schließen lässt.

domradio.de: Das heißt, die meisten Indizien sprechen dafür, dass es sich um einen Völkermord handelt?

Prof. Schwartz: Wissenschaft spricht nie endgültige Urteile. Das unterscheidet uns vielleicht auch vom juristischen Bereich. Wissenschaft ist ein sich ständig bewegender Erkenntnis- und Frageprozess. Insofern ist es auch türkischen Wissenschaftlern oder Wissenschaftlern, die die Völkermordeinstufung kritisch betrachten, unbenommen, mit guten Argumenten in eine weitere Diskussion einzusteigen. Im Augenblick ist es nur so, dass die überwiegende Mehrzahl aller Wissenschaftler weltweit, die sich mit diesen Fragen beschäftigt, zu der Einstufung als Völkermord tendiert. Das muss auch die Türkei zur Kenntnis nehmen.

domradio.de: Inwieweit hatte die Bundesrepublik als Rechtsnachfolger des damaligen deutschen Staates, des deutschen Reiches, die moralische Pflicht eine solche Resolution zu verabschieden?

Prof. Schwartz: Ich würde schon sagen, es gibt gute Gründe, warum sich gerade die deutsche Öffentlichkeit und nun auch das deutsche Parlament nicht nur kritisch mit türkischen Verbrechen beschäftigt, sondern auch mit der deutschen Mitverantwortung oder sogar der deutschen Mitschuld an diesen Verbrechen, die hundert Jahre her sind. Denn in der Tat ist Deutschland ja im Ersten Weltkrieg der wichtigste Verbündete für das Osmanische Reich gewesen. Deutsche Diplomaten, deutsche Militärs, auch viele deutsche Privatleute, auch aus dem Bereich der Kirchen, hatten sehr gute Informationen, was da stattgefunden hat. Die deutschen Quellen aus dieser Zeit sind ein ganz wesentliches Beweismittel für die Diagnose Völkermord, weil so nah und so vielfältig beobachtet werden konnte. Hier hat die damalige deutsche Regierung eindeutig versagt, indem sie beschloss, diesen Völkermord zu tolerieren, um die Türkei nicht als Bündnispartner zu verlieren und damit müssen wir uns auch als Deutsche auseinandersetzen.

domradio.de: Wenn Deutschland seine Verantwortung mitanerkennt, warum ist das für die Türkei ein Problem? Sie hat sogar den eigenen Botschafter aus Berlin abgezogen...

Prof. Schwartz: Für die Türkei ist das aus vielfältigen Gründen ein Problem. Zum Einen hat die Türkei ein sehr starkes heroisches Verständnis von der eigenen Nation, vom eigenen Nationalstaat, entwickelt. Das wurde im Grunde aus der Defensive heraus entwickelt, denn am Anfang stand ja eine verheerende Niederlage im Ersten Weltkrieg, die fast zu einer völligen Aufteilung türkischer Gebiete und anderen Nachbarstaaten oder Großmächten geführt hätte. Insofern ist dieser heroische Nationalismus als ein Versuch der Selbstverteidigung zu verstehen. Dieser Selbstverteidigungsversuch wurde dann auf die Verbrechen an den Armeniern, die ja wesentlich vorher stattgefunden hatten, in der Erinnerung mit ausgedehnt. Man wollte diese dunklen Flecken nicht anerkennen. Wenn man die Toten anerkannte - sowohl Atatürk, als auch Erdogan haben das ja zu bestimmten Zeiten gemacht - wollte man sie jedenfalls nicht als Opfer eines Völkermordes anerkennen, sondern als vielleicht tragische Opfer eine notwendigen Selbstverteidigungsmaßnahme.

Der wesentliche Unterschied liegt aber darin, dass Deutschland ja auch jahrzehntelang Zeit gebraucht hat, sich mit eigenen Verbrechen auseinanderzusetzen. Es ist ja nicht so, dass das einer Nation, einer Öffentlichkeit, leicht fällt. Wir haben uns ja auch Jahrzehnte gefragt: Wie gehen wir mit den Nazi-Verbrechen um? Wie gehen wir vor allem mit der Shoah und den europäischen Juden um? Wir sind erst spät zu einem gelasseneren und selbstkritischen Umgang mit diesen Dingen gekommen. Das kann man einem Volk, einer Gesellschaft, schwer von außen verordnen. Wir können mit einer solchen Resolution, wie der heutigen, ein Zeichen geben - an die türkischen und die armenischen Mitbürger hier im Lande, aber auch an die türkische Zivilgesellschaft -, dass es möglich ist, differenziert und auch selbstkritisch darüber zu sprechen. Dann können wir nur hoffen, dass diese Anstöße in der türkischen Gesellschaft selbst zu Fortschritten führen.

Das Interview führte Uta Vorbrodt.


Quelle:
DR