Giffey zu Missbrauch in der Kirche

"Heute gibt es eine eindeutige Grenze"

Ende Januar jährt sich das Bekanntwerden des Ausmaßes sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche zum zehnten Mal. Bundesfamilienministerin Giffey erzählt, was sich seitdem getan hat und welche Konsequenzen sie von den Kirchen erwartet.

Symbolbild Missbrauch / © Harald Oppitz (KNA)
Symbolbild Missbrauch / © Harald Oppitz ( KNA )

epd: Frau Ministerin, vor zehn Jahren erschütterte der Missbrauch von Kindern und Jugendlichen in der katholischen Kirche die Republik. Die Zahl der Fälle von Missbrauch geht aber nicht zurück. Droht der Kampf gegen sexuelle Gewalt an Kindern verloren zu gehen?  

Franziska Giffey (Bundesfamilienministerin, SPD): Das glaube ich nicht. Man darf aber auch nicht davon ausgehen, dass der Kampf jemals komplett gewonnen wird. Wir müssen alles dafür tun, dass gut präventiv gearbeitet wird, konsequente Strafverfolgung stattfindet und die Gesellschaft sensibilisiert wird. Dass die Zahl der Fälle nicht zurückgeht, kann auch daran liegen, dass mehr gemeldet werden.

Das kennen wir aus der Diskussion um Gewalt gegen Frauen. Es ist eben auch so: Jeder Fall, der aus dem Dunkelfeld herauskommt, aufgedeckt wird, ist ein Fall, in dem geholfen werden kann.  

epd: Ist das vielleicht der wesentliche Erfolg der vergangenen zehn Jahre?

Giffey: Der größte Erfolg ist zweifelsohne, dass das Thema viel stärker in der öffentlichen Wahrnehmung ist. Es gibt inzwischen einen ganz klaren gesellschaftspolitischen Konsens, dass Missbrauch zu ächten und sicher kein Kavaliersdelikt ist. Mit Sprüchen wie "Nun hab dich mal nicht so", "Kommt doch überall mal vor" oder "Der hat doch gar nichts gemacht" wurden Taten früher oft abgetan. Heute gibt es eine eindeutige Grenze, die besagt, dass Missbrauch von Kindern nicht toleriert werden darf.

epd: Ausgangspunkt der Debatte waren Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche. Wo stehen die Kirchen heute nach Ihrer Einschätzung bei der Aufarbeitung?

Giffey: Immerhin gibt es Willensbekenntnisse und die ersten Schritte. Missbrauch von Kindern ist Thema. Den Versuch aber, darauf zu verweisen, dass Missbrauch auch in anderen Bereichen stattgefunden hat, finde ich schwierig. Zum Beispiel wenn ich von den Kirchen höre, man müsse ja auch Missbrauch in anderen Feldern aufarbeiten, zum Beispiel im Sport. Auch wenn die Kirchen nicht der einzige Ort für Missbrauch sind, macht es das doch nicht weniger schlimm.

epd: Sie haben wiederholt gefordert, dass kein Täter mehr ein Amt in der Kirche bekleiden darf. Wie wollen Sie das durchsetzen?

Giffey: Ich erwarte, dass die Kirchen konsequent weiterarbeiten - an der Aufarbeitung der Fälle, der Entschädigung der Opfer und der Frage, wie die Täter zur Verantwortung gezogen werden. Und ja, ich bin der Auffassung: Jemand, der ein Kind missbraucht hat, hat in keinem Amt der Kirche mehr etwas zu suchen. Das müssen die Kirchen in ihren Regularien verbindlich verankern und sie tun dies teils auch schon.

epd: Die katholische Kirche diskutiert intensiv über Reformen: Wie verfolgen Sie die Debatte um männliche Hierarchien, Sexualmoral und Zölibat?

Giffey: Da ist noch viel Luft nach oben. Es ist ein erster Schritt, dass Papst Franziskus das "Päpstliche Geheimnis" gelockert hat. Für mich ist es allerdings eine Selbstverständlichkeit, dass die katholische Kirche bei der Aufklärung mit staatlichen Behörden zusammenarbeitet und entsprechende Informationen zur Verfügung stellt. Missbrauch von Kindern ist keine kircheninterne Angelegenheit.

Darüber hinaus müssen wir grundlegende Dinge hinterfragen: Das Zölibat ist in meinen Augen ein Risikofaktor für sexuellen Missbrauch. Auch autoritäre, klerikale Strukturen begünstigen sexuellen Missbrauch, der immer auch ein Missbrauch von Macht ist.

Ich kann und will der Kirche nicht reinreden, wie sie sich organisiert. Sie muss aber wirksame Schutzkonzepte entwickeln. Dazu gehört eine Jugendarbeit, bei der es nicht so viele Gelegenheiten für Missbrauch gibt. Da stellen sich zentrale Fragen: Ist jemand mit einem Kind länger allein? Gibt es enge Vertrauensverhältnisse? Wer kontrolliert das? Es gibt Anstrengungen der Kirchen, das besser zu organisieren. Ob die aber tatsächlich bis in die letzte Gemeinde wirken, vermag ich nicht einzuschätzen.

epd: Diskutiert wird in beiden Kirchen auch die Frage der Entschädigung. Welche Höhe halten Sie für angemessen?

Giffey: Ich nenne keine Beträge, weil das sehr von der Lage und Situation der Betroffenen abhängig ist. Das muss man aber transparent regeln. Für die Betroffenen ist Entschädigung ein wichtiger Punkt, weil es auch um Anerkennung geht. Aus Gesprächen mit Betroffenen weiß ich, dass allein das ungemein hilft. Im kürzlich verabschiedeten Gesetz zur sozialen Entschädigung haben wir dafür gesorgt, dass es für Betroffene leichter ist, an Hilfen zu kommen. Trotzdem finde ich es angebracht, dass die Kirchen überlegen, wie sie diese Fälle auch selbst entschädigen.

epd: Der Staat hatte vor Jahren einen eigenen Fonds für Opfer von Missbrauch aufgelegt. Wird es den weiter geben?

Giffey: Dieser Fonds wird fortgeführt, weil die Bedarfe der Betroffenen weiterhin bestehen. Wir haben im Bundeshaushalt für das Jahr 2020 den Fonds um mehr als 20 Millionen auf 45 Millionen Euro aufgestockt. Und es wird eine Umstrukturierung geben. Der Fonds wird ab dem nächsten Jahr beim Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben angesiedelt. Den Mitarbeitenden wird eine langfristige Beschäftigungsperspektive eröffnet. Im Moment arbeiten wir daran, die Bearbeitungszeiten auf perspektivisch drei bis sechs Monate zu verkürzen.

epd: Wie sieht es aus mit der Aufarbeitung in Sportvereinen oder staatlichen Einrichtungen wie Heimen?

Giffey: Da muss noch mehr getan werden.  Die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs hat kürzlich Empfehlungen zu Aufarbeitungsprozessen in Institutionen vorgelegt. Damit gibt es Leitlinien, auch für Sportvereine, wie eine Aufarbeitung ablaufen soll. Diese Leitlinien müssen in Zukunft gelten, damit Betroffene Klarheit haben und zu ihren Rechten kommen.

Und wir werden die Reform des Kinder- und Jugendhilferechts nutzen, um den Kinderschutz in Deutschland noch verlässlicher zu machen. Dazu gehört unter anderem auch, dass wir die Heimaufsicht verschärfen und die Kooperation zwischen der Kinder- und Jugendhilfe, dem Gesundheitswesen und der Justiz verbessern.

epd: Sie selbst wollen das Jugendmedienschutzgesetz verschärfen. Was planen Sie konkret?

Giffey: Wir haben derzeit ein Jugendschutzgesetz, das im Zeitalter von CD-Rom und Videokassette stehengeblieben ist. Jeder hat aber heute jederzeit Zugang zum Netz, deshalb müssen wir den Jugendschutz ins digitale Zeitalter bringen. Es geht um drei große Bereiche: Schutz, Orientierung und Durchsetzung. Schutz heißt, dass wir große Anbieter dazu verpflichten, Vorkehrungen zu treffen, dass Kinder ihre Dienste sicher nutzen können.

Zum Beispiel, indem bei Chats erstmal voreingestellt ist, dass fremde Leute Kinder nicht anchatten können. Oder durch gut sichtbare Hilfe-Buttons direkt im Chat, für den Fall, dass Kinder etwa mit sexueller Anmache konfrontiert sind. Wie in einem Auto ein Sicherheitsgurt eingebaut sein muss, so müssen bei Online-Spielen bestimmte Voreinstellungen vorhanden sein, die Kinder und Jugendliche schützen. Der Bereich Orientierung richtet sich besonders an die Eltern, an Lehrkräfte, Erzieherinnen und Erzieher. Wir wollen einheitliche und verlässliche Alterskennzeichnungen. Diese Fragen werden wir mit einem modernen gesetzlichen Kinder- und Jugendmedienschutz angehen.

epd: Und was heißt Durchsetzung?

Giffey: Wir sorgen dafür, dass große Player wie Instagram, Tiktok oder Whatsapp die Regeln auch tatsächlich einhalten. Dazu werden wir die "Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien" zur "Bundeszentrale für Kinder- und Jugendmedienschutz" weiterentwickeln.
Die Bundeszentrale wird sich dann anschauen, welche Vorkehrungen die großen Player ergriffen haben. Wenn diese nicht ausreichen, werden Anbieter aufgefordert, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen. Wenn das nicht reicht, muss es natürlich auch Sanktionen geben.

Das Interview führten Corinna Buschow und Bettina Markmeyer.


Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD) / © Gregor Fischer (dpa)
Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD) / © Gregor Fischer ( dpa )
Quelle:
epd