Haus der Bayerischen Geschichte blickt auf bajuvarische 60er

Übersättigt von Arbeit und Vergnügen?

In Franz Xaver Bogners Kultserie "Irgendwie und Sowieso" werden die bayerischen 60er lebendig. Tradition trifft hier auf Revoluzzertum. Wie es wirklich war und welche Rolle der Glaube spielte, weiß das Haus der Bayerischen Geschichte.

Autor/in:
Barbara Just
Teilnehmer eines Weiterbildungskurses des Sankt Michaelsbundes für Büchereileiter, einer Dachorganisation der katholischen Volksbüchereien in Bayern, in Schloß Hirschberg am 21. Juli 1967 / © KNA-Bild (KNA)
Teilnehmer eines Weiterbildungskurses des Sankt Michaelsbundes für Büchereileiter, einer Dachorganisation der katholischen Volksbüchereien in Bayern, in Schloß Hirschberg am 21. Juli 1967 / © KNA-Bild ( KNA )

Ein Tragerl Bier, eine Palette Himbeerjoghurt und dazu ein Plattenspieler – all dies hat Ottfried Fischer in seiner Rolle als Sir Quickly auf den Kirchturm hinauf geschafft. 

Dort oben gibt sich der niederbayerische Bauernsohn nun über Stunden und unter dem lautstarken Abspielen dröhnender Poprhythmen dem Weltschmerz und der Trauer hin: seinen Lieblingsbullen Ringo, mit dem er als Sieger aus dem Ochsenrennen hervorging, ließ der Vater schlachten. Und seine große Liebe Christl hat ihn versetzt.

Die Szene aus Franz Xaver Bogners Kult-Serie "Irgendwie und Sowieso" hat Geschichte geschrieben. Sie fing eine Stimmung ein, als die Umbrüche nach und nach auch das tiefste Niederbayern erreicht hatten. 

Von bayerischen Bauern zu BMW-Industriearbeitern 

"Sein Darsteller Ottfried Fischer war einer von uns, einer aus dem Woid, unser Held", schreibt der Direktor des Hauses der Bayerischen Geschichte, Richard Loibl, im Vorwort des neuen "HDBG-Magazin. Edition Bayern", das den 1960er Jahren in Bayern gewidmet ist. 

Ottfried Fischer / © Armin Weigel (dpa)
Ottfried Fischer / © Armin Weigel ( dpa )

Der "Sir" stehe für die Generation zwischen den Welten, die noch Bauern gewesen seien, es manchmal sogar sein wollten, aber dann bei BMW zu Industriearbeitern geworden seien.

Der Journalist Hans Kratzer, aufgewachsen im ober-niederbayerischen Grenzland, erinnert sich, dass die Angst vor Hölle und Verdammnis sehr präsent, der Kirchgang unumstößliche Pflicht gewesen sei.

Ho-Chi-Minh-Verehrung gegen Currywurst in Niederbayern

 "Ungewiss erschien uns das Schicksal der beiden evangelischen Kinder in der Pfarrei. Während des katholischen Religionsunterrichts mussten sie brav vor der Tür des Klassenzimmers ausharren." Nahte ein Unwetter, seien in der Stube die Wetterkerzen angezündet worden.

Einen Revoluzzer habe es im Markt Velden auch gegeben, weiß Kratzer. Das "Zigarettenbürscherl", aus dessen Gesäßtasche die Mao-Bibel hervorgelugt sei, habe in sein Lloyd-Cabrio ein paar Knaben eingeladen. "Dann bretterte das Kommando durch den Ort, 'Ho Ho Ho-Chi-Minh' skandierend sowie 'Bürger runter vom Balkon, unterstützt den Vietkong'." 

Danach seien die Kämpfer gen Landshut gefahren, um sich die vom Revolutionsanführer fürs Mitmachen versprochene Currywurst spendieren zu lassen.

Frieden und soziale Gerechtigkeit stehen auf Agenda der Kirche

Der bayerische Staat förderte derweil den Einbau von Zentralheizungen und modernen Küchen im Wohnhaus. Freizeit und Urlaub wurden für Bauvorhaben in Eigenregie verwendet. Dennoch wagten einige Ferien am "Teutonengrill" an der Adria und brachten Chianti-Flaschen als Souvenir mit, die als Halter für Tropfkerzen dienten.

Ukrainische Jugendliche tanzen bei einer Stunde der Katholischen Jugend am 6. August 1960 beim 37. Eucharistischen Weltkongress in München (KNA)
Ukrainische Jugendliche tanzen bei einer Stunde der Katholischen Jugend am 6. August 1960 beim 37. Eucharistischen Weltkongress in München / ( KNA )

Auch die Kirche bot Abwechslung. Unter den Leitworten "Dank für Friede und Wohlstand, Forderung nach sozialer Gerechtigkeit, Versöhnung mit Polen, Friede in Vietnam" zogen jährlich bis zu 800 junge Frauen und Männer im Rahmen der Passauer Jugendfußwallfahrt nach Altötting, notiert Hannelore Putz. 

Erstmals hatte diese 1946 stattgefunden. Anfangs sei man getrennt nach Geschlechtern gegangen, ab 1953 gemeinsam. In den 1960er Jahren seien zu zwei Drittel Frauen dabei gewesen. 

Die Bindekraft des katholischen Milieus lässt allmählich nach

Die katholische Bindekraft als gesellschaftlicher Kitt begann jedoch zu erodieren. Die Teilnehmenden mussten sich gegenüber Gleichaltrigen zunehmend für ihr Mitwirken rechtfertigen.

Eucharistiefeier beim 37. Eucharistischen Weltkongress in München 1960 (KNA)
Eucharistiefeier beim 37. Eucharistischen Weltkongress in München 1960 / ( KNA )

Dabei war in der Kirche Aufbruch angesagt. 1960 hatte in München der Eucharistische Weltkongress stattgefunden, das Zweite Vatikanische Konzil (1962-1965) folgte. 

Angesichts zunehmender materieller Sicherheit, Freizeit und Mobilität machte sich der Stadtpfarrer von Sankt Franziskus in München, Heinrich Sperr, aber Sorgen: Er stellte eine "allgemeine Übersättigung durch die Arbeit einerseits und das Vergnügen andererseits" fest, so dass die Menschen Anderes im Sinn hätten als religiöses Engagement.

Vervielfachung der Kirchenaustritte in nur drei Jahren

Wallfahrt der Mitglieder der "Fides Romana" am 9. September 1959 in Altötting (KNA)
Wallfahrt der Mitglieder der "Fides Romana" am 9. September 1959 in Altötting / ( KNA )

1967 diagnostizierte sein Nachfolger Johann Warmedinger, das Familienleben leide "sehr schwer ob des Doppelverdienertums und all den bekannten Neuzeiterscheinungen".

Vielen Katholiken ging der Reformwille nicht weit genug. Waren es in der Erzdiözese München und Freising 1967 noch 1.505 gewesen, die austraten, lag deren Zahl 1970 bei 7.137. 

Zum Vergleich: 2022 waren es 49.029. Die Zeit hat sich eben geändert, übrigens auch für die CSU: 1962, 1966 und 1970 gewann sie die Landtagswahlen noch mit absoluter Mehrheit.

Frauen und das Zweite Vatikanische Konzil

Wer an das Zweite Vatikanische Konzil denkt, hat wahrscheinlich nur Männer vor Augen. Doch auch Frauen waren stark am Konzil interessiert und brachten sich ein - nicht nur hinter den Kulissen.

Männersache: Zweites Vatikanisches Konzil (KNA)
Männersache: Zweites Vatikanisches Konzil / ( KNA )
Quelle:
KNA