Hanns-Josef Ortheil über Lese- und Lebenshunger

Der Romanautor muss ein Beichtvater sein

Mit seinen Romanen hat Hanns-Josef Ortheil nicht nur Preise gewonnen, sondern vor allem die Leser begeistert. Durch sein Buch "Wie Romane entstehen" lässt sich der Professor für Kreatives Schreiben jetzt in die Karten schauen.

Autor/in:
Sabine Kleyboldt
Hanns-Josef Ortheil / © Luchterhand-Verlag
Hanns-Josef Ortheil / © Luchterhand-Verlag

Im KNA-Interview spricht er über den moralischen Auftrag des Romans und den Autor als Beichtvater.

KNA: Herr Ortheil, wie entstehen Romane?
Ortheil: Jedenfalls nicht so, wie es die üblichen Schreibratgeber planen, denn die gehen meist von einem festen Konzept aus. Da bekommen die Autoren dann nur noch beigebracht, wie sie ein bestimmtes Gerüst ausfüllen müssen. Viel interessanter und bedeutsamer sind aber doch die ganz frühen Stufen des Wegs zum Roman. Darauf legt das Buch vor allem Gewicht.

KNA: Wie fühlen Sie sich persönlich in diesem Anfangsstadium?
Ortheil: Vielleicht ein bisschen wie "der heilige Hieronymus im Gehäus" auf dem berühmten Kupferstich von Albrecht Dürer. Dieser Gelehrte in seiner Studierstube ist ja sozusagen nackt, weil er noch gar nicht ahnt, was ihn an Visionen und Gedanken alles noch überraschen wird. Er sitzt in einem geschlossenen Raum, meditiert und wartet, bis ihm etwas einfällt. Er will seinen Stoff also nicht penetrant herbei zwingen, wie die Schreibratgeber es immer empfehlen, sondern er kann warten, bis ihm ein Stoff gleichsam zufällt.

KNA: Was macht einen guten Romanautor aus?
Ortheil: Als Romanautor bin ich der Schöpfer einer universellen Welt, der fähig sein muss, diese Welt aus den verschiedensten Blickwinkeln zu betrachten. Für jede dieser Perspektiven benötige ich aber eine ganz eigene Sensibilität und Erfahrung. Ich muss eine Sensibilität dafür haben, wie Menschen in bestimmten Situationen handeln und reden, ich muss wissen, wie sie sich kleiden und was sie essen, ich muss aber auch eine Art Beichtvater sein, der weiß, was sie verdrängen oder was sie im Innersten bewegt.

KNA: Wird die Konjunkturkrise zu mehr Innerlichkeit und damit zur Entstehung von noch mehr Romanen führen?
Ortheil: Nein, denn erstens haben Romane mit Innerlichkeit nichts zu tun und zweitens ist es doch wahrhaftig kein Ergebnis der Konjunkturkrise, dass bestimmte Themen jetzt wieder salonfähig sind.
Ernsthafte Gespräche über so wesentliche Themen wie Familie, Liebe, Freundschaft, Religion sind vielmehr bereits seit Jahrzehnten wieder möglich, ohne dass sie nur ironisch behandelt oder abgetan würden.
Das ist eine Entwicklung, die schon seit den späten 1980er Jahren im Gange ist und sich durch die Konjunkturkrise höchstens noch weiter beschleunigt.

KNA: Wo erleben Sie diesen Trend?
Ortheil: Ich beobachte das bei vielen meiner Freunde. Nicht, dass sie plötzlich gläubig geworden wären oder ständig in die Kirche gingen, sie lassen sich nur auf Themen ein, auf die sie sich früher nie eingelassen hätten. Religiöse Themen zum Beispiel sind längst wieder gesprächsfähig geworden, weil sie mit den alten Dogmen-Debatten und den kirchlichen Lehrmeinungen nicht mehr ausschließlich in Verbindung gebracht werden. Jetzt ist eher die Frage, was denn der Glaube an sich ist, unabhängig von einem ideologischen oder kirchlichen Kommentar. Vermittelt er sich nicht auch über andere Lebenserfahrungen des Menschen, zum Beispiel über die Liebe?

KNA: Welche Beziehung haben Sie zum Thema Religion?
Ortheil: Ich bin ein Katholik aus dem Rheinland, ich bin ein katholischer Kölner, im Kölsch-Katholischen Raum bin ich aufgewachsen, das sagt eigentlich bereits alles. Während der Pubertät habe ich diesen Raum aus einer gewissen Entfernung betrachtet, aber ich habe ihn nie verlassen. Ich gehe mit meiner Familie regelmäßig in den Gottesdienst, aber über religiöse Erfahrungen wird bei uns nicht dauernd gesprochen, sie sind einfach ein ganz selbstverständlicher Teil des Lebens.

KNA: Schiller, dessen 250. Geburtstag wir in diesem Jahr begehen, sprach vom Theater als "moralische Anstalt". Wie lässt sich das auf den Roman übertragen?
Ortheil: Das "moralische Moment" des Romans besteht vielleicht in einer Ethik der in ihm dargestellten Lebensformen und in den Debatten, die der Roman auslöst. Das bedeutet aber nicht, dass man sich als Autor dauernd dieses moralischen Moments bewusst ist, eher ist dieses Moment dem Stoff bereits immanent. Wenn ich also etwa eine Liebesgeschichte schreibe wie den Roman "Die große Liebe", dann besteht seine ethische Komponente darin, wie ich die Annäherung der beiden Liebenden, ihren Umgang miteinander und ihr gemeinsames Leben inszeniere. Und eben das tue ich in einer sehr bewussten Weise anders, als man es heutzutage im Allgemeinen in der deutschen Gegenwartsliteratur oder im Film erlebt.

KNA: Welche Rolle spielen Schauplätze in Ihren Romanen?
Ortheil: Die Schauplätze in meinen Romanen sind Räume, die ich liebe und zu denen ich daher eine emotionale Verbindung habe. Im Leben eines Menschen kann es nicht viele solcher Orte geben, denn jeder dieser Orte ist gleichsam ein anderes Stück "Heimat". Es gibt nicht die "eine" Heimat, sondern mehrere, andererseits aber eben auch nicht unendlich viele. Ich lasse meine Figuren also dort auftreten, wo sie sich zu Hause fühlen oder wo sie zu Hause sein möchten.

KNA: Ihr nächstes Buch heißt "Lesehunger. Ein Büchermenu in zwölf Gängen". Die literarische Antwort auf die vielen TV-Kochshows?
Ortheil: Ganz und gar nicht. Ich wohne in Stuttgart auf einem großen, alten Weinberggelände mitten in der Stadt. Darauf stehen die unterschiedlichsten kleinen Behausungen, alte Weinberghäuschen, ein Pavillon, Gartenhäuser. Jedes dieser Häuser ist ein eigener Leseraum und besitzt eine eigene Bibliothek mit besonderen Schwerpunkten: Es gibt eine Reisebibliothek, eine asiatische Bibliothek, eine Küchenbibliothek, es gibt die verrücktesten Bibliotheken. In meinem Buch stelle ich zwölf Räume mit verschiedenen Bibliotheken vor, die sich in diesen kleinen Behausungen befinden. Das Menu besteht also darin, dass ich eine Wanderung durch dieses große Gartengelände mache und dem Leser wie ein kluger und erfahrener Koch Hinweise gebe, welche Bücher er in welchen Räumen lesen und welche Lektüren er miteinander kombinieren sollte.

KNA: Also ein Ratgeber, welchen literarischen Kanon man intus haben sollte?
Ortheil: Nein, genau das Gegenteil, "Lesehunger" ist ein Anti-Kanonbuch. Es geht darin nicht um die bekannten Autoren, sondern vor allem um interessante Bücher, auf die ich zufällig aufmerksam geworden bin. Mein Buch soll also wieder Freude und vor allem Lust am Lesen machen und den Leser darin bestärken, so wild wie möglich zu lesen. Nicht mit der Absicht: ich muss jetzt dies und das lesen, und das muss mir dann etwas geben, sondern freier, aus einer Laune heraus, die sich dann zu einer Leidenschaft entwickeln könnte.

KNA: Wie geben Sie sich diesem Lesehunger hin?
Ortheil: Vor allem während meiner vielen Zugreisen. Wenn ich vor einer solchen Reise in eine Bahnhofsbuchhandlung gehe, komme ich fast immer mit einem Paket von Büchern wieder heraus, an die ich zuvor noch gar nicht gedacht habe. Und dann reise ich los und habe im Gepäck ein Buch übers Kegeln, eins über das Verhalten von Tieren im Straßenverkehr, eines über Jesus Christus und eines über das Testament Johann Sebastian Bachs. Das wird dann eine wirklich fantastische Reise.