Griechenland vor der Wahl am Sonntag

Das Land der Demokratie?

Vor den Wahlen am Sonntag in Griechenland fehlt den Griechen der demokratische Enthusiasmus. Vielen hätte nicht mehr das Gefühl, noch wirklich über etwas entscheiden zu können, sagt René Lammer, Pfarrer in Athen, im domradio.de-Interview.

Griechen vor Wahlplakaten in Athen / © Yannis Kolesidis (dpa)
Griechen vor Wahlplakaten in Athen / © Yannis Kolesidis ( dpa )

domradio.de: Vor einem Monat ist Alexis Tsipras als Ministerpräsident zurückgetreten. Am Sonntag wird er bei den Neuwahlen wieder antreten - mit der Hoffnung auf ein eindeutiges Bekenntnis der Wähler zu seiner Politik. Sind diese Hoffnungen Ihrer Meinung nach realistisch?

Pfarrer René Lammer (Evangelische Gemeinde in Athen): Das ist der Blick in die Glaskugel, den wir da werfen müssen. Diesmal scheint es zwischen den beiden großen Parteien - Nia Dimokratia und Syriza - sehr knapp auszugehen. Es sind noch sehr viele Wähler unentschlossen. Ich fürchte, dass es keine definitive Klärung geben wird, und dass es dann schon bald wieder Neuwahlen geben wird. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es zu einer großen Koalition zwischen den konservativen Kräften und der Syriza kommt. Das wäre eine 180-Grad-Wende, die den treuesten Syriza-Wählern wohl auch nicht mehr zu vermitteln wäre. 

domradio.de: Alexis Tsipras hat eine solche Koalition bislang ja auch ausgeschlossen. Auch wenn wir also von einem Kopf-an-Kopf-Rennen ausgehen: Bietet sich für einen möglichen Wahlsieger Syriza noch jemand als Koalitionspartner an? 

Lammer: Eine Partei wie To Potami, die sich in der Mitte positioniert, kommt eventuell als Koalitionspartner in Frage. Vielleicht auch der linke Flügel von Syriza, der sich abgespalten hat. Im griechischen Wahlsystem nimmt der Wahlsieger zwar nicht alles, bekommt aber auf Anhieb 50 Plätze mehr. Das sorgt für einen erstaunlichen Vorteil, so dass auch eine kleine Koalition denkbar ist. Wie stabil die ist, ist eine andere Frage. Wir haben ja beim letzten Mal gerätselt, warum Syriza mit der nationalen Rechten zusammengegangen ist - das ist ja eine klar ausländerfeindliche und deutschkritische Gruppe gewesen. Die Strategie, die dahinter steckte, war, dass man einen Block gegen Europa bilden wollte. Da war die nationale Rechte ein zuverlässiger Bündnispartner. Das braucht man so jetzt ja nicht und deswegen kann ich mir vorstellen, dass man eher auf gemäßigte Kräfte zugehen wird.

domradio.de: Ist die Flüchtlingskrise in Europa auch ein Thema, das die Wahl mitentscheiden könnte. Immerhin könnte man Tsipras den Vorwurf machen, dass er sich in der aktuell heiklen Situation aus der Verantwortung gestohlen hat. 

Lammer: Ich glaube nicht, dass man ihm das anlasten wird. Das wäre zu leicht gemacht. Lesbos zum Beispiel hat 40.000 Einwohner. Da kommen zigtausende Flüchtlinge an. Da ist jede Insel und jede Regierung überfordert. München, eine Stadt mit 1 Millionen Einwohnern, ist ja auch an seine Grenzen gestoßen. Bei einem kleinen Land wie Griechenland und solchen winzigen Inseln, passiert das dann erst recht. Eigentlich kann man das Tsipras nicht zum Vorwurf machen. Hinsichtlich der Flüchtlingspolitik will Syriza ja einen humanen Kurs fahren, aber durch die aktuelle Situation ist Griechenland eben überfordert. 

domradio.de: Steht den Griechen denn gerade der Sinn nach Wahlen?

Lammer: Ich glaube, dass die Wahlmüdigkeit von der Tatsache herrührt, dass man nicht mehr wirklich etwas zu wählen hat. Im Frühjahr wählte man ja zwischen dem alten konservativen Programm der Nea Dimokratia und dem von Syriza, das sich gegen die EU gestellt hat. Aber jetzt ist sich Tsipras mit der EU einig geworden und im Grunde gibt es nicht wirklich etwas zu wählen. Und deswegen gibt es keinen Enthusiasmus. Griechenland ist das Land der Demokratie, die findet aber nicht mehr wirklich statt. Die Regierungen haben dem Volk zu vermitteln, was woanders beschlossen wird. Das erfüllt uns mit großer Sorge. Das wird letztendlich doch als permanente Demütigung empfunden und damit ist Gefahrenpotenzial da.

 

Das Gespräch führte Daniel Hauser.


Quelle:
DR