Gilberto Gil hat die Politik an den Nagel gehängt und ist als Musiker in Europa unterwegs

Die neue alte Freiheit

Zwischen 2003 und 2008 musste Gilberto Gil auf die Ferien und Wochenenden ausweichen, um Konzerte zu geben. Damals war er Kulturminister Brasiliens. Jetzt ist er wieder "nur" Musiker und auf Tournee. Politisches hat er aber noch immer im Gepäck.

Autor/in:
Gerhard Dilger
 (DR)

Man sieht Gilberto Gil an, dass er das Leben genießt. "Ich bin frei und kann ich mich wieder ganz der Musik widmen, komponieren!" Der schlanke 67-Jährige mit dem einprägsamen Gesicht und den langen, grauen Rastazöpfchen ist einer der ganz Großen der brasilianischen Popmusik, eine Art Nationalheld. Aber auch in Europa bekommt er die Konzertsäle voll. Derzeit ist er wieder auf Tour. Mit seinem Sohn Bem und dem Cellisten Jaques Morelenbaum spielt er in Frankreich, England, Deutschland, Spanien und Italien, am 21. November im Haus der Kulturen der Welt in Berlin.

In seiner Zeit als Kulturminister Brasiliens 2003 bis 2008 musste er auf die Ferien und Wochenenden ausweichen, um Konzerte zu geben. Doch das politische Engagement war ihm schon immer ein Anliegen. Als einer der ersten schwarzen Minister Brasiliens setzte er sich für die Anerkennung der Vielfältigkeit von Brasiliens Bevölkerung ein. "Einer meiner großen Träume ist, dass in Brasilien eine gemeinsame Identität entsteht aus den vielfältigen Strömungen, Religionen, Bevölkerungsgruppen und Kulturen, die in unserem Land leben", sagte er einmal.

Vor allem jedoch brillierte als Kulturbotschafter seines Landes: Mit Kofi Annan an den Bongos gab er bei der UN-Vollversammlung ein Friedenskonzert, zur Fußball-WM in Deutschland schrieb er einen Song, und jeden Sommer stand er auf den Bühnen Europas. Doch das war ihm zuwenig, er wollte sich wieder ganz der Musik widmen. Erst sein drittes Rücktrittsgesuch nahm Präsident Luiz Inácio Lula da Silva an.

"Wir wollten die brasilianische Kunst aktualisieren"
Gil ist ein Kosmopolit. Der Musiker, der im nordöstlichen Bundesstaat Bahia aufwuchs, öffnete sich schon zu Beginn seiner Karriere dem Rock'n'roll und den Beatles. "Wir wollten das, was die Jugendlichen in den USA und Europa erobert hatten, für Brasilien nutzen", sagte er dem epd. "Wir wollten die brasilianische Kunst aktualisieren."

Das gelang ihm vor allem in der Zusammenarbeit mit Caetano Veloso. Die beiden Freunde führten die "Tropicalismo"-Bewegung an, die brasilianische Genres wie Baiao, Bossa Nova oder Samba mit angloamerikanischen Jazzeinflüssen vermischte. Der musikalisch revolutionäre und zugleich sozialkritische Stil erweckte allerdings das Misstrauen der damaligen Militärdiktatur (1964-85), so dass die beiden Männer 1968 für einige Monate ins Gefängnis gesperrt wurden. Anschließend ging Gil für zwei Jahre ins Londoner Exil.

1977 begab er sich für mehrere Wochen auf Spurensuche nach Nigeria und bekannte sich ganz zu seinen afrikanischen Wurzeln. In "La renaissance africaine", einem seiner jüngsten Lieder, singt er, Afrika sei "der Schlüssel für die echte Konstruktion der zivilisierten Welt". Das negative Afrikabild in den europäischen Medien führt er auf eine koloniale Haltung zurück: Wegen der "Unterwerfung durch die europäischen Mächte" sei Afrika "noch nicht vollständig als Wiege der Menschheit anerkannt". Das ändere sich auch wegen der schwarzen Diaspora in Brasilien, den USA, der Karibik und Europa.

Lateinamerika als "Versuchslabor für eine neue Zivilisation"
Ebenso optimistisch sieht er die politische Entwicklung in Lateinamerika. "Mit den sozialdemokratischen bis halbsozialistischen Regierungen bewegen wir uns in Richtung nachhaltigen Fortschritt", sagt er. Mit seinem einzigartigen Völkergemisch sei der Kontinent das "Versuchslabor für eine neue Zivilisation".

Diese Betonung des Multikulturellen setzt er auch konsequent in seiner Musik um. Gilberto Gil mischt Reggae, der ihn wegen seiner neuen, minimalistischen Architektur aus Blues und karibischen Rhythmen fasziniert, mit Elementen aus der nordostbrasilianischen Volksmusik. So setzt er das Akkordeon ein, das die Klänge Brasiliens mit der europäischen Bauernmusik verbindet. Auch zum arabisch inspirierten Baião-Rhythmus ist er in den vergangenen Jahren immer wieder zurückgekehrt.

Auch nachdenkliche Töne sind ihm nicht fremd. Er denke fast die ganze Zeit an den Tod, bekennt er. "Da wir alle dazu bestimmt sind, uns der Endlichkeit zu stellen, müssen wir die endliche Zeit, die uns gegeben ist, unendlich leben", sagt Gil. "Wenn das Leben reiner Materialismus wird, Ehrgeiz, Macht, wenn der Mensch die klare Vision des Göttlichen verliert, dann fällt er ins Leere, in ein schwarzes Loch."