Gedenken an die Opfer des Amoklaufs von Erfurt vor 20 Jahren

Für jeden leuchtet eine Kerze

Vor 20 Jahren tötete ein ehemaliger Schüler am Erfurter Gutenberg-Gymnasium 16 Menschen und später sich selbst. Pfarrerin Ruth-Elisabeth Schlemmer spricht über das Gedenken an die Opfer, heilsame Rituale und die Suche nach Frieden.

Tage und Wochen nach der Tat kommen viele Menschen zum Erfurter Gutenberg-Gymnasium, um der Opfer des Amoklaufes vom 26. April zu gedenken und Blumen niederzulegen.  / © Jan-Peter Kaspar (dpa)
Tage und Wochen nach der Tat kommen viele Menschen zum Erfurter Gutenberg-Gymnasium, um der Opfer des Amoklaufes vom 26. April zu gedenken und Blumen niederzulegen. / © Jan-Peter Kaspar ( dpa )

DOMRADIO.DE: Sie werden heute in besonderer Weise der Opfer gedenken. Lassen Sie uns aber erst einmal darüber sprechen, wie das war am 26. April 2002, gegen 11 Uhr. Wo waren Sie genau? 

Pfarrerin Ruth-Elisabeth Schlemmer (Evangelische Pfarrerin der Andreasgemeinde Erfurt): Ich kam von einem Hausbesuch bei zwei alten Leuten. Ich erzähle immer wieder, dass das wichtig für mich ist, weil die beiden alten Leute mir ein bisschen Kuchen mitgegeben haben. Das hat mich dann an dem Tag gerettet.

Ich bin auf dem Weg zu einem Kindergarten gewesen, der unserer Gemeinde zugeordnet ist und fuhr mit meinem Fahrrad an dem Sportplatz vorbei, der neben der Schule liegt. An diesem Sportplatz am Eingang stand ein Polizist. Es war ein kleines Zelt aufgebaut und ein paar jugendliche Schüler saßen darin. Dann habe ich etwas gemacht, was ich vorher in meinem Leben noch nie gemacht habe. Ich bin vom Fahrrad abgestiegen, bin auf den Polizisten zu gegangen und habe gesagt: "Ich bin Pfarrerin. Kann ich irgendetwas tun? Ist was passiert?"

Damit begann mein Tag auf dem Sportplatz. Das war dann der Ort, wo all die Jugendlichen und Lehrerinnen und Lehrer und Angehörigen und alle, die helfen wollten, hingebracht wurde. Dort waren nachher auch Polizei und Notfallseelsorger. Das war der Ansatzpunkt. Dort bin ich dann viele Stunden lang geblieben.

Ich habe immer wieder die Schüler und Schülerinnen miteinander verbunden, die völlig verwirrt da durchliefen. Ich habe Decken organisiert, habe mit Angehörigen gesprochen und habe im Laufe dieser Stunden das Ausmaß mitbekommen. 

DOMRADIO.DE: Zeugen der Tat leiden heute teilweise immer noch unter dem damals Erlebten. Wie ging es Ihnen als zufällig Vorbeigekommene? Haben Sie schlaflose Nächte danach gehabt? 

Pfarrerin Ruth-Elisabeth Schlemmer

"Das ist was Wunderbares, dass wir so etwas haben wie unsere Kirchenräume, die immer bereit sind, die wir bloß aufschließen brauchen."

Schlemmer: Nein, schlaflose Nächte nicht, aber Nächte in Gedanken natürlich. Wir als Pfarrer oder Pfarrerinnen dürfen ja gleich was tun. Und das hilft natürlich ungemein.

An dem Abend habe ich mich mit Kollegen und Kolleginnen verabredet, die Kirche zu öffnen. Die Andreaskirche ist dort gleich nebenan. Das ist was Wunderbares, dass wir so etwas haben wie unsere Kirchenräume, die immer bereit sind, die wir bloß aufschließen brauchen. Das hilft mir natürlich ungemein und hat mir auch über die Zeit geholfen, dass ich mich immer wieder millimeterweise mit den Betroffenen voran bewegt habe. So habe ich mich selber natürlich auch ein Stück therapiert. Das ist das Wort, was wir da gelernt haben und erkannt haben, wie nötig das für uns alle ist. 

Erfurt erinnert an Amoklauf am Gutenberg-Gymnasium vor 20 Jahren

An den Amoklauf am Erfurter Gutenberg-Gymnasium vor 20 Jahren wird an diesem Dienstag mit mehreren Gedenkveranstaltungen erinnert. Der 17 Toten wird unter anderen bei einer Gedenkveranstaltung im Johann-Gutenberg-Gymnasium gedacht. In der Erfurter Kirche St. Andreas ist zudem am Vormittag ein Gottesdienst geplant.

An den Gedenkfeierlichkeiten wird nach Angaben der Erfurter Staatskanzlei auch Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) teilnehmen.

Erfurt: "Wir erinnern" steht auf einer Schleife an einem Rosenstrauß vor dem Gutenberg-Gymnasium / © Martin Schutt (dpa)
Erfurt: "Wir erinnern" steht auf einer Schleife an einem Rosenstrauß vor dem Gutenberg-Gymnasium / © Martin Schutt ( dpa )

DOMRADIO.DE: Die Tat ereignete sich gegen 11 Uhr und heute um 11 Uhr wurden Glocken an unterschiedlichen Orten geläutet. Zum einen ertönte bei Ihnen an Sankt Andreas in Erfurt die Glocke und zudem noch die Gutenberg-Glocke. Erzählen Sie, was das ist. 

Schlemmer: Vielleicht muss ich ein bisschen ausholen. Schule und Kirche sind hier bei uns im Osten - und vor 20 Jahren natürlich noch mehr als heute - zwei Dinge, die man nicht gleich sofort zusammen denkt.

Die Andreasglocke ist unsere tiefste Glocke, unsere älteste Glocke. Die läutet immer dann, wenn wir Gedenk- oder Trauerfeiern haben. Die Glocke haben wir natürlich immer um elf geläutet, während sich auch gleichzeitig am Gutenberg-Gymnasium die Schulgemeinschaft zum Gedenken getroffen hat. Wir haben immer gehofft, dass der Wind so steht, dass man die Glocke hört. Das war aber natürlich nicht immer so.

Mein Kollege am Gutenberg-Gymnasium, der dort damals schon Religionslehrer war und heute auch noch ist, bereitet mit mir und anderen immer die kleine Andacht vor. Wir sind sehr viel im Gespräch gewesen.

Und das Schöne ist, dass manche von unseren Ritualen in der Kirche weitergegeben werden können. Denn seine Idee war es, dass es eine extra Glocke gibt, die im Gutenberg-Gymnasium bleibt, bewahrt wird und jedes Jahr zum Gedenken hervorgeholt wird und dann mit 16 Schlägen die Namen der Opfer verlesen werden. 2017 ist diese Glocke gegossen worden.

So hat es also ein Ritual aus der Kirche hinaus an eine Schule gefunden. Wir hoffen, dass das auch ein Ritual sein wird, was vielleicht im Gedächtnis der Schule bleibt - auch wenn wir als die Betroffenen damals nicht mehr dabei sind. 

Pfarrerin Ruth-Elisabeth Schlemmer

"So hat also ein Ritual aus der Kirche hinaus gefunden an eine Schule."

DOMRADIO.DE: Heute ist es 20 Jahre her, dass diese Tat stattgefunden hat. An diesem Abend werden Sie dann um 18 Uhr noch einmal den Opfern des Amoklaufs gedenken. In welcher Form? 

Schlemmer: Wir haben unser Ritual gefunden und wir machen das seit vielen Jahren immer genau so. Das Wichtigste ist, dass wir die Namen verlesen. Es leuchten Kerzen - 16 plus eine - den ganzen Tag. Die werden um 11 Uhr angezündet, dann ist die Kirche den ganzen Tag offen.

Abends werden die Namen verlesen und da kommen dann Angehörige. Wir suchen uns jedes Jahr ein Thema. Wir überlegen jedes Jahr, wo stehen wir. In diesem Jahr haben wir unser Motto gefunden: Frieden finden. Und wir denken an die, die ihren Frieden tatsächlich gefunden haben. Wir sind sehr dankbar für die Gemeinschaft, die geholfen hat, Frieden zu finden. Menschen, die neue Partnerschaften eingehen konnten. Kinder, die groß geworden sind, selber Kinder haben. Aber wir denken auch an die, die bis heute ihren Frieden nicht finden können. 

DOMRADIO.DE: Sie haben eben gesagt 16 plus eine Kerze. Die eine steht vermutlich dann für Robert Steinhäuser?

Schlemmer: Ja, die eine steht für den Täter. Sie steht immer woanders, immer an einer anderen Stelle. Wir haben das Ritual, dass die 16 Kerzen für die Opfer von einer inzwischen ehemaligen Lehrerin angezündet werden. Die Kerze für den Täter zünde ich an. Dann leuchten alle, aber an verschiedenen Stellen. 

Das Interview führte Tobias Fricke.

Quelle:
DR