Für die Kirche ist das Thema Missbrauch eine Zeitbombe

Eine Verfehlung ganz besonderer Art

Für die katholische Kirche in Deutschland ist der vom Berliner Canisius-Kolleg ausgehende Missbrauchsskandal ein beträchtliches Problem. Zwar reichen weder die Anzahl noch die Schwere der Vergehen auch nur entfernt an das heran, was aus den USA und Irland berichtet wurde. Dennoch tun sich die zuständigen Ortsbischöfe ebenso wie der Jesuitenorden schwer mit diesem Skandal, der sie mit 30-jähriger Verspätung einholt wie eine vergessene Zeitbombe. Von KNA-Chefredakteur Ludwig Ring-Eifel.

 (DR)

Zu den Standardreaktionen gehört es, Betroffenheit zu bekunden und umfassende Aufklärung zu geloben. Ferner wird auf die Richtlinien verwiesen, die Bistümer und Orden in Deutschland nach der US-amerikanischen Skandalwelle vor wenigen Jahren beschlossen haben. Doch mit keiner dieser Reaktionen gelingt es den heute Verantwortlichen, zu erklären oder zu entschuldigen, wie ihre Vorgänger vor rund einem Vierteljahrhundert mit diesen Ereignissen umgegangen sind.

Denn die heute geforderte «Kultur des Hinschauens» und der rückhaltlosen Aufklärung gab es damals noch nicht, und zwar weder in den Kirchen, noch in anderen Bildungsinstitutionen. Die Hoffnung, den Missbrauch von Minderjährigen durch öffentliche Ausleuchtung und Anprangerung der Täter in den Griff zu bekommen, ist das Ergebnis einer neuen Sensibilität und einer veränderten Wahrnehmung von Sünde und Öffentlichkeit. Und mit der tut die Kirche schwer. Hinzu kommen die schlimmen Erfahrungen mit der Propaganda der Nationalsozialisten, die seinerzeit auf die Veröffentlichung von Missbrauchsskandalen setzten, um den unliebsamen Gegner Kirche moralisch zu diskreditieren.

Auch Papst Johannes Paul II. (1978 - 2005) schaffte nicht den Durchbruch zu einer konsequenten Bestrafung und Aufarbeitung von Missbrauchsfällen. Kardinal Joseph Ratzinger, heute selbst Papst, sorgte hingegen 2001 mit einem Erlass über die «Delicta graviora» («Schwerere Vergehen») dafür, dass die kirchliche Strafverfolgung verbessert und die Strafen verschärft wurden. In seiner weltweit ausgestrahlten Kreuzwegsmeditation des Jahres 2005, wenige Wochen vor seiner Wahl zum Papst, formulierte Ratzinger die Worte: «Wie viel Schmutz gibt es in der Kirche und gerade auch unter denen, die im Priestertum ihm ganz zugehören sollten? (...) Auf deinem Ackerfeld sehen wir mehr Unkraut als Weizen. Das verschmutzte Gewand und Gesicht deiner Kirche erschüttert uns.»

Schon damals wurden diese Worte von Beobachtern als Indiz dafür gewertet, dass Ratzinger mit den Missbrauchsskandalen aufräumen werde. Im Jahr 2008 setzte er dann als Papst bei seinem USA-Besuch durch eine Begegnung mit Missbrauchsopfern und eine öffentliche Vergebungsbitte neue Maßstäbe. Und in Irland sorgte er dafür, dass Bischöfe zurücktraten, die nicht angemessen reagiert hatten. In beiden Fällen war es die Ortskirche, die den Papst bat, einzugreifen. In die Debatte um den deutschen Missbrauchsskandal hat sich Benedikt XVI. noch nicht öffentlich eingeschaltet, und auch die zuständigen Bischöfe haben sich bislang zurückgehalten, wohl auch deshalb, weil es sich in erster Linie um eine Angelegenheit des Jesuitenordens handelt.