Abraham Lehrer begrüßt Prozesse gegen frühere KZ-Mitarbeiter

"Für Angehörige existenziell wichtig"

In den vergangenen Tagen sollten sich ehemalige KZ-Mitarbeiter vor Gericht erklären. Wie wichtig ist es, dass Menschen in hohem Alter trotzdem für ihre damaligen Verbrechen angeklagt werden? Abraham Lehrer findet: sehr wichtig.

Beginn Prozess gegen ehemaligen KZ-Wachmann / © Fabian Sommer (dpa)
Beginn Prozess gegen ehemaligen KZ-Wachmann / © Fabian Sommer ( dpa )

DOMRADIO.DE: Als wäre dieser Fall nicht kurios genug, war es doch in der vergangenen Woche ein Prozess gegen eine 96-jährige ehemalige KZ-Sekretärin. Dieser Prozess hat auch Schlagzeilen gemacht. Warum werden trotz des hohen Alters der Angeklagten überhaupt noch solche Prozesse in Deutschland geführt?

Abraham Lehrer (Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland): Es ist eine Frage der Gerechtigkeit. Für Überlebende, für Angehörige von Menschen, die in den Konzentrationslagern ermordet worden sind, ist es existenziell wichtig, dass die Täter einer Strafe zugeführt werden, auch wenn die manchmal nur symbolisch ist. Aber für diese Angehörigen, für die Überlebenden, ist es eine wirklich existenziell wichtige Tatsache, dass es dort zu Verurteilungen kommt und dass die Menschen schuldig gesprochen werden.

DOMRADIO.DE: Meinen Sie, dass solche Strafrechtsprozesse gegen diese betagten damaligen Nazi-Mitarbeiter weiter auch die Verbrechen sichtbar machen, die damals begangen worden sind?

Lehrer: Auf jeden Fall. Es kann glaube ich nicht hoch genug angerechnet werden, wenn die Justiz die Aufarbeitung auch zum Teil rein geschichtlicher Art in diesen Prozessen vornimmt und einfach einmal rekonstruiert: Wie sah ein Tagesablauf aus? Welchen Schwierigkeiten, welchen unmöglichen Verhältnissen waren die armen Häftlinge damals ausgesetzt? Und wenn all dies ans Tageslicht gebracht wird und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird, ist das, glaube ich, etwas, was die Aufarbeitung und das Gedenken an diese Zeit der Shoah und des Holocaust sehr befördern wird.

DOMRADIO.DE: Was bedeutet es für die Überlebenden und Hinterbliebenen, wenn zum Beispiel jetzt eine Freiheitsstrafe für den 100-jährigen ehemaligen KZ-Wachmann erhoben wird? So viel hat man doch eigentlich nicht mehr von seiner Haft.

Lehrer: Es geht nicht darum, dass - ich sage mal - eine Art Rachegedanke dahinter steht, dass der jetzt für den Rest seines Lebens ins Gefängnis wandern muss. Wenn ich ein Bild heranziehen darf: Wir alle kennen aus unserem schönen Köln die weißen Fahrräder, meistens an irgendwelchen Kreuzungspunkten oder Kreuzungsorten, wo Menschen in Verkehrsunfällen auf Fahrrädern ums Leben gekommen sind.

Warum hegen und pflegen diese Angehörigen, diese Familien diese Symbole, diese weißen Fahrräder und achten darauf, dass das alles in Schuss gehalten wird? Weil das Gedenken an den Angehörigen für sie wirklich auch sehr wichtig ist. Und das gleiche gilt für die Überlebenden oder Angehörigen von ermordeten Menschen aus den Konzentrationslagern. Es ist dieses Wachhalten, dieses Gedenken an die Angehörigen, die da gelitten haben, die da ermordet worden sind.

DOMRADIO.DE: In der vergangenen Woche wollte sich die 96-jährige Angeklagte dem Prozess entziehen. Sie war mit einem Taxi geflüchtet. Auch vom ehemaligen 100-jährigen Wachmann soll es keine Aussage geben zu seinen Taten. Und beides zeugt irgendwie nicht gerade von Reue. Was würde es diese Menschen kosten, die Schuld zuzugeben?

Lehrer: Ich glaube, dass ein Großteil von diesen Menschen, die ihre Schuld nicht anerkennen wollen, früher Überzeugungstäter waren. Also wirklich Menschen, die geglaubt haben, Juden sind Personen, sind Menschen zweiter oder dritter Klasse. Und sich selber einzugestehen, dass man dort ein völlig falsches Weltbild oder Lebensbild für sich geschaffen hatte oder akzeptiert hatte, das fällt nicht allen Menschen sehr einfach einen eigenen, einen persönlichen Fehler einzugestehen.

DOMRADIO.DE: Dass diese Fälle jetzt erst verhandelt werden, kurz bevor diese Menschen in ein Alter kommen, wo sie ohnehin sterben, ist das auf Justizversagen zurückzuführen?

Lehrer: Natürlich hätten wir uns alle, glaube ich, gewünscht, wenn viele Fälle viel früher an das Tageslicht der Justiz gekommen wären. Ich habe im Fernsehen einen Bericht über diesen konkreten Fall des 100-Jährigen gesehen. Da ging es wohl um Archive in Russland, wo man auf einmal Materialien zutage gefördert hat, die die Russen beim Abzug nach 1945 aus Deutschland mit in die sowjetische Heimat genommen haben.

Und diese Materialien waren anscheinend vorher nicht zugänglich. Insofern sage ich mal, würde ich nicht von Justizversagen sprechen, sondern ich freue mich darüber, dass es noch gelungen ist, zu Lebzeiten dieser Täter die Materialien ausfindig zu machen und die Menschen jetzt vor Gericht zu stellen.

Das Interview führte Tobias Fricke. 


Abraham Lehrer, Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland / © Julia Steinbrecht (KNA)
Abraham Lehrer, Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland / © Julia Steinbrecht ( KNA )
Quelle:
DR