Friedenspreisträger Aleida und Jan Assmann über das Heilige

Wozu taugt heute noch Religion?

Aleida und Jan Assmann fühlen sich mit dem 'Heiligen' verbunden. Im Interview erzählen die Friedenspreisträger, was ihnen Religion bedeutet, warum die Heiligen Drei Könige eine geniale Erfindung sind und wie Psalmen trösten können.

Aleida und Jan Assmann / © J.Schröer (DR)
Aleida und Jan Assmann / © J.Schröer ( DR )

"Man kann nicht leben ohne das Gefühl eines Getragenseins von etwas, das jenseits des Wissbaren liegt", sagt Jan Assmann, "und dieses Gefühl übersetzt sich dann in konkrete Bilder oder Texte. Aber das sind immer Übersetzungen". Religionen, religiöse Bilder und Praktiken seien ein Ausdruck des zutiefst menschlichen Bedürfnisses nach Geborgenheit. Wie jeder Mensch habe er diese Empfindung auch, sagt Assmann. Er wisse um die Distanz, um den Übersetzungscharakter unserer religiösen Traditionen. "Religionen gibt es nur im Plural", sagt er, "und andere Religionen sind genauso Übersetzungen von etwas, was wir aber durchaus nachempfinden können".

Das Zentrum der Religion ist die Praxis

Jan und Aleida Assmann sind ein wissenschaftlich erfolgreich arbeitendes Intellektuellenpaar. Seit über 50 Jahren sind sie verheiratet. Aleida Assmann ist in einem protestantischen Theologen-Elternhaus aufgewachsen und sagt, viel entscheidender als die Frage nach dem Glauben an Gott sei die religiöse Praxis.

"Ich finde, dass im religiösen oder theologischen Gespräch dieses Stichwort 'Glaube' eine ungute Rolle spielt", sagt sie, "weil es einfach aus sich heraus Zweifel und Misstrauen und Streit und alles Mögliche induziert. Für mich ist das Zentrum der Religion eigentlich nicht der Glaube, sondern die Praxis. Für mich ist Religion etwas, das man tut. Es besteht solange, wie man etwas tut". Zugespitzt gefragt, könnte es dann aber auch möglich sein, dass man betet, also eine religiöse Praxis ausübt – ohne zu glauben? Aleida Assmann antwortet lachend. "Wissen sie, wenn man betet, hört man endlich einmal auf, ständig diese Zwischenfragen zu stellen. Man macht sich doch unglaublich nervös".

Die Heiligen Drei Könige - eine Erfindung

Vom DOMRADIO.DE Studio blicken die beiden direkt auf den Kölner Dom. Jan Assmann schwärmt von den Heiligen Drei Königen, die im Dom beerdigt liegen. Auf der einen Seite sei die Geschichte der Könige ja eine pure Fiktion, eine reine Erfindung, sagt er. Die Drei Könige habe es nie gegeben. "Im Neuen Testament kommen sie als solche nie vor", betont Assmann, "Rainald von Dassel hatte die geniale Idee, solche unmittelbar mit der Heilsgeschichte verbundenen Gestalten nach Köln zu bringen. Um diese Fiktion hat sich dann dieser herrliche Dom errichtet, der uns allen sehr, sehr viel bedeutet".

Es sei nun völlig egal, ob es die Heiligen Drei Könige überhaupt gegeben habe oder nicht. Und dieses Beispiel könne man hochrechnen. "Es ist völlig egal, ob in der späten Bronzezeit am Sinai diese Offenbarung geschah. Das ist genauso eine Fiktion wie die Heiligen Drei Könige. Aber das, was sich darauf errichtet hat, ist der kulturelle Ausdruck von etwas, was tief in uns steckt und das im Judentum, im Christentum – auch im Islam, der darauf aufbaut, seine Wahrheit gefunden hat". Und jeder einzelne könne auch heute diese Wahrheit in sich wiederentdecken, ergänzt Aleida Assmann. "Es ist ja nicht so, dass da irgendwann ein Betrug stattgefunden hat, dem wir hinterherlaufen, sondern dass das eine Form ist, in der man eine innere Wahrheit wiederentdecken kann".

Die tröstende Kraft der Psalmen

In der zunehmend säkularen westlichen Welt erleben wir, dass das Wissen um die christlichen Traditionen zunehmend verblasst. Kaum einer weiß noch, welche Bedeutung Ostern, Pfingsten oder Weihnachten hat. Jan Assmann stimmt dem zu. Religion sei ein Wissenskomplex, der in der Gegenwart verblasse und verschwinde. "Auf der anderen Seite gibt es aber eine menschliche Grundangewiesenheit auf das Heilige. Es gibt immer Dinge, die uns heilig sind. Und wenn es nicht mehr Weihnachten ist, dann ist es etwas anderes". So erleben Aleida und Jan Assmann die Musik als etwas Heiliges, was sie über den Alltag hinaushebt, die Bachkantaten zum Beispiel. Auch die beiden Kulturwissenschaftler hätten sich, so erzählen sie, von der streng religiösen Praxis ihrer Eltern entfernt.

Aleida Assmann bedauert, dass sie das religiöse System ihrer Kindheit nicht an ihre eigenen fünf Kinder habe weitervermitteln können. Aber dann sagt sie auch: "Jan hat sowas wie eine Bibelfestigkeit in die Erziehung der Kinder miteingebracht. Also das bedeutet uns sehr viel. Tatsächlich ist es auch etwas, was uns am Herzen liegt und was man ja noch immer weiter praktizieren kann". Und dann ergänzt Jan Assmann: "Eine Tochter von uns wurde schwer krank und sie wünschte sich, dass ich mit ihr Psalmen lese. Dann bin ich nach Berlin gefahren und wir haben zusammen wunderbare Psalmen gelesen und es hat ihr sehr viel bedeutet. Auch in unserem säkularen Haushalt spielt das eine große Rolle – und zwar eine stärkende, stützende, hilfreiche. Das geben wir nicht auf, bei aller Weltlichkeit".


Quelle:
DR