Frauen in Indien retten mit Selbstbewusstsein ihre Familie

Schule statt Kinderarbeit

Der Begriff "Tante-Emma-Laden" ist in dem indischen Dorf Ghadi Jahan Singh nicht bekannt. Wohl aber der Einsatz der katholischen Kirche für die Ärmsten der Armen. Ein Ortsbesuch zur Fastenaktion von Misereor. 

Autor/in:
Gottfried Bohl
Kamlesh und ihr Mann Jagdish stehen vor dem eigenen Geschäft  / © Gottfried Bohl (KNA)
Kamlesh und ihr Mann Jagdish stehen vor dem eigenen Geschäft / © Gottfried Bohl ( KNA )

Kamlesh ist stolz. Auch wenn sie das nie sagen würde. Ganz im Gegenteil. Aber ihr Strahlen sagt mehr als alle Worte. Wenn man es denn sieht. Denn bei ihrem großen Auftritt vor dem ganzen Dorf und den Gästen aus Deutschland verhüllt sie ihr Gesicht. Wie es die Tradition befiehlt, wenn auch die älteren Männer aus ihrem Dorf dabei sind. Denen starke und selbstbewusste Frauen immer noch eher suspekt sind.

Immerhin: Einen ihrer schönsten Saris hat die 35-Jährige rausgeholt zum Verhüllen - in feinem rot und schwarz. Denn heute soll sie allen erzählen, wie sie es geschafft hat. Geschafft, dass ihre drei Kinder nicht wie so viele andere tagein tagaus am Webstuhl sitzen oder in der Ziegelei Steine schleppen müssen. Und auch geschafft, dass sie nicht mehr morgens mit der Sorge aufwacht, woher und wie sie bis zum Abend genug zu Essen beschaffen soll für Amit (15), Anjali (12) und Gaurav (10). Nicht zu vergessen: sie selbst, Ehemann Jagdish (40), die Schwiegermutter und der Büffel. 

"Wir Frauen haben vereinbart, jeden Monat mindestens 100 Rupien (ca. 1,50 Euro) in eine gemeinsame Kasse einzuzahlen", beginnt Kamlesh zu erzählen, zunächst noch ziemlich leise. Um sie herum sitzen nicht nur Hunderte Dorfbewohner auf dem staubigen Boden vor der Schule – vom Säugling bis zum Greis. Auch der Freiburger Erzbischof und Misereor-Bischof Stephan Burger, Münchens Weihbischof Rupert Graf Stolberg und Misereor-Hauptgeschäftsführer Pirmin Spiegel hören gespannt zu. Im Vorfeld der Fastenaktion besuchen sie Projekte des katholischen Hilfswerks im diesjährigen Beispielland Indien.

Hilfe durch geleihtes Geld

"Wer Geld braucht, kann sich hier was leihen – zu ganz geringen Zinsen", spricht die Hindu-Frau weiter. Wie fast alle aus dem Dorf gehört sie zu den Dalits, den Kastenlosen, den Unberührbaren. Die es immer noch am schwersten haben in Indien. Jetzt redet sie schon deutlich lauter hinter ihrem vors Gesicht gezogenen schwarz-roten Tuch. Die Frauen leihen sich Geld, um etwa eine Nähmaschine zu kaufen; um eine Kuh, eine Hochzeit oder eine Beerdigung zu finanzieren – oder auch für Medikamente, wenn jemand krank wird in der Familie.

"Ich habe mir schon dreimal 20.000 Rupien geliehen", erzählt Kamlesh weiter. Für einen kleinen Laden vor allem: "Jetzt können meine Kinder endlich jeden Tag zur Schule gehen. Und wir müssen auch nicht mehr hungern." Keine Selbstverständlichkeit im 1.500-Seelen-Dorf Ghadi Jahan Singh bei Agra, nicht weit vom weltberühmten Taj Mahal. Das Erzbistum Agra gehört zu Uttar Pradesh, mit rund 190 Millionen Menschen der bevölkerungsreichste und einer der ärmsten Bundesstaaten Indiens. Mit der Hilfe von Misereor ist die Kirche seit fünf Jahren auch in diesem Dorf aktiv mit Sozialprojekten gegen Armut, Hunger und Kinderarbeit.

 

Denn bis heute können viele Familien nur überleben, wenn die Kinder mitarbeiten und Geld verdienen, insbesondere am Webstuhl, in der Ziegelei oder beim Tiere hüten. Jetzt erzählen andere Frauen, Kinder und auch ein paar Männer von Nähkursen, vom Hygiene- und Gesundheitsunterricht, von Nachhilfe in biologischer Landwirtschaft und davon, wie sie endlich Lesen und Schreiben gelernt haben. "Unsere Kinder sollen das früher lernen, damit sie es mal besser haben", ist der wohl meistgehörte Satz an diesem Nachmittag.

"Ich finde es immer wieder faszinierend, wie schnell gerade die Mädchen und Frauen in diesen Projekten ihre eigenen Fähigkeiten entdecken und an Selbstbewusstsein gewinnen", schwärmt Misereor-Chef Spiegel: "Wie sie auch für ihre Rechte kämpfen und dafür sorgen, dass die eigene Familie und nach und nach das ganze Dorf das Leben aus eigener Kraft meistern, ohne auf Almosen angewiesen zu sein."

Weihbischof Stolberg ist ebenfalls beeindruckt vom Zusammenhalt: "Die Menschen denken nicht in erster Linie an sich, sie wollen ihre Familien und ihr ganzes Dorf voranbringen." Und Erzbischof Burger findet es erstaunlich, zu sehen, "wie die kleine Minderheit der Christen mit doch recht bescheidenen Mitteln wirklich Großes bewirkt. Wie sie den Menschen – unabhängig von der Religion – neue Hoffnung bringt und die Chance auf ein menschenwürdigeres Leben."

Was heißt "Tante-Emma-Laden" auf Indisch?

Kamlesh hockt inzwischen wieder zwischen den anderen Frauen, lugt mit glänzenden Augen unter ihrem Tuch hervor, tuschelt mit ihren Nachbarinnen und lacht auch mal. Sie hat ja ihren Bericht hinter sich, vor dem sie schon ein wenig aufgeregt war.

Zehn Minuten später und drei staubige Gassen weiter zeigt sie ihren Laden. "Tante-Emma-Laden" würde man in Deutschland wohl sagen, in den indischen Sprachen gibt es keinen entsprechenden Begriff. Von Seife über Reis und Bohnen bis zum Spielzeug und den beliebten Süßigkeiten gibt es auf drei mal drei Metern alles für den täglichen Bedarf.

Und der Laden läuft, denn der nächste Markt ist weit entfernt. "Das Geschäft hätte ich nie eröffnen können ohne die Unterstützung aus dem Projekt", betont die 35-Jährige: "Die ersten beiden 20.000er Raten habe ich zurückgezahlt, von der letzten fehlen noch vier Monatsraten: jeweils 1.800 Rupien."

Stolz oder Würde?

Auch Ehemann Jagdish ist froh – und sichtlich auch ein wenig stolz auf seine Frau. Bis vor kurzem hat er als Tagelöhner in einer Lederfabrik Schuhe zusammengenäht – wenn es denn etwas zu tun gab. Nur allzu oft hat der 40-Jährige den langen Weg über die staubigen Straßen umsonst zurückgelegt. Jetzt sitzt er hier – dem Laden sei Dank – an einer eigenen Nähmaschine im kleinen Nebenraum, der auch als Lager dient und nachts als Schlafraum für das Ehepaar und die drei Kinder.

Das Haus, zu dem noch ein winziges Obergeschoss gehört, ist übrigens auch ziemlich neu. Für umgerechnet 240 Euro konnten sie es bauen. In der alten Hütte nebenan wohnt jetzt nur noch die Schwiegermutter – und der Büffel natürlich. Wenn das alles kein Grund ist, tatsächlich stolz zu sein? Eine Frage, die Kamlesh nur mit einem stillen Lächeln beantwortet. Vielleicht wäre Würde ein passenderes Wort.

 

Quelle:
KNA