Forscher sieht Missbrauch-Risikofaktoren in vielen Gemeinden

"Fatale Pastoralmacht"

Sexualisierte Gewalt kann nach Aussage des Hamburger Kirchenhistorikers Thomas Großbölting in allen evangelischen Gemeinden vorkommen. Täter machten sich die jeweiligen Strukturen zunutze, so seine Einschätzung.

Autor/in:
Franziska Hein
Evangelischer Pfarrer / © Ingrid Pakats (shutterstock)

"Sowohl in den traditionellen als auch in den liberalen Tatkontexten machen sich die Missbrauchstäter die jeweiligen Strukturen zunutze", sagte der Mit-Autor der Missbrauchs-Studie für die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) und der Diakonie, die vergangenen Donnerstag vorgestellt wurde.

Thomas Großbölting / © Lars Berg (KNA)
Thomas Großbölting / © Lars Berg ( KNA )

Ein zentraler Befund der Studie des unabhängigen Forschungsverbunds "ForuM" sei die Beobachtung, wie parallel in der katholischen und evangelischen Kirche geistliche Ämter Risikofaktoren seien. "Bei allen Unterschieden scheinen mir die grundlegenden Mechanismen sehr ähnlich zu sein. Und das finde ich erstaunlich", sagte Großbölting. 

Ähnliche Mechanismen in beiden Kirchen

Auch auf der evangelischen Seite gebe es "eine ebenso große und im Tatfall dann fatale Pastoralmacht". Im Protestantischen scheine nicht wie in der katholischen Kirche die formale Weihe der ausschlaggebende Punkt zu sein, sondern eher die Einbindung in die Institution und die besondere Herausgehobenheit des Pfarrers.

Die Tatsache, dass in den aus der Reformation hervorgegangenen Kirchen der Gedanke der "Freiheit des Christenmenschen" zentral sei, scheine ebenso wenig vor Machtmissbrauch zu schützen wie die weitgehende Gleichstellung von Frauen und Männern. Der Kirchenhistoriker, der eine Aufarbeitungsstudie für das Bistum Münster leitete, sprach von "Machtvergessenheit". 

Großbölting: Vorherrschendes Ideal verhindert Aufarbeitung

"Das vorherrschende Ideal der Geschwisterlichkeit, der Partizipation, der Demokratie verhindert, dass es klare Strukturen gibt, sowohl für die Aufarbeitung als auch für den Umgang mit Betroffenen, die versuchen, ihre Erfahrungen zu berichten", sagte er. Zugleich seien die Synodalstrukturen eine große Chance des Protestantismus, dürften sich aber nicht mit dem Fehlen von Verantwortlichkeiten und fachlicher Kontrolle verbinden.

EKD-Missbrauchsstudie / © Jens Schulze (epd)
EKD-Missbrauchsstudie / © Jens Schulze ( epd )

Nach seiner Beobachtung gebe es in der evangelischen Kirche jenseits der etablierten Strukturen, also dem Beteiligungsforum, den Landeskirchenämtern, dem Rat der EKD, wenig Auseinandersetzung zu sexualisierter Gewalt. In der katholischen Kirche gebe es Laien-Bewegungen wie "Wir sind Kirche", "Maria 2.0", die katholische Jugend und das Zentralkomitee der Katholiken. Diese Gruppen und Verbände übten Druck aus, dass sich etwas ändere.

MHG-Studie der Bischofskonferenz und ForuM-Studie der EKD

Die vor fünf Jahren veröffentlichte MHG-Studie der katholischen Deutschen Bischofskonferenz und die ForuM-Studie zum Missbrauch in der evangelischen Kirche lassen sich nur bedingt miteinander vergleichen. Ziel ist es jeweils, Umfang und Strukturen des Missbrauchs in katholischer und evangelischer Kirche zu ermitteln. Die Kirchen sind auch Auftraggeber der Studien.

MHG-Studie / © Harald Oppitz (KNA)
MHG-Studie / © Harald Oppitz ( KNA )
Quelle:
epd