Forscher analysieren Zustände in kirchlichen Kinderheimen

Massive Missstände

Eine neue Studie bestätigt schwere Mängel in der konfessionellen Heimerziehung nach dem Krieg. Zwischen 1949 und 1972 sind demnach Kinder und Jugendliche meist nur unzureichend gefördert worden, wurden missbraucht und misshandelt. Experten gehen von rund 30.000 Opfern aus.

Autor/in:
Christoph Arens
 (DR)

"Wenn du so weiter machst, kommst Du ins Heim." Die Drohung gehörte noch Mitte des 20. Jahrhunderts zum Repertoire überforderter Eltern und Lehrer. Ein Heimkind zu sein, "blieb in der Geschichte der Bundesrepublik immer ein Stigma", heißt es in einer am Dienstag vorgestellten Studie der Ruhr-Universität Bochum über die Heimerziehung der frühen Bundesrepublik.



Massive Missstände in den kirchlichen Heimen in Westdeutschland haben der katholische Kirchenhistoriker Wilhelm Damberg und sein evangelischer Kollege Traugott Jähnichen in ihrem jetzt abgeschlossenen Forschungsprojekt festgestellt. Allerdings: Das von den beiden Kirchen mit Drittmitteln geförderte Projekt geht das Thema differenzierter an als Spiegel-Redakteur Peter Wensierski, der mit seinem 2006 erschienenen Buch "Schläge im Namen des Herrn" eine bundesweite Debatte ausgelöst hatte.



Hunderttausende Heimkinder seien zwischen 1949 und 1972 in Deutschland schikaniert, zu schwerer Arbeit gezwungen und mitunter sogar sexuell missbraucht worden, so Wensierskis plakative Anklage. Damberg und Jähnichen beschönigen Missstände und Fehlverhalten nicht. Sie ziehen allerdings auch die damals geltenden Erziehungsvorstellungen und die Situation der Jugendhilfe in der Nachkriegszeit als Bewertungsmaßstab heran. So verweisen die Kirchenhistoriker etwa darauf, dass Ordnung und Disziplin in den 50er Jahren einen hohen Stellenwert als Erziehungsziel hatten. In vielen Heimen habe es deshalb eine auch durch Landesgesetze legitimierte Strafpädagogik gegeben.



Keine Unterschiede zwischen kirchlichen und öffentlichen Heimen

Rund 800.000 Jungen und Mädchen haben zwischen 1949 und 1975 Kontakt zu westdeutschen Kinderheimen gehabt, davon bis zu 600.000 zu einer kirchlichen Einrichtung, so die "statistische Annäherung" der Kirchenhistoriker. "Nicht wenige" Kinder und Jugendliche hätten die Heime als "totale Institutionen" erlebt, in denen sie eingeschränkte Rechte, drakonische Strafen sowie Demütigungen und Misshandlungen erdulden mussten. Dabei reichten die Strafen vom Essensentzug über die Isolierung in "Besinnungszimmern" bis zu sexuellem Missbrauch. So wurden einem Heimzögling nach einem Fluchtversuch alle Haare abgeschnitten. Bei Bettnässern sei "das morgendliche Herumlaufen mit der nassen Bettwäsche vor den anderen Kindern und Jugendlichen überliefert", betont der Bericht.



Allerdings: Die Wissenschaftler sehen bei den Missständen keine signifikanten Unterschiede zwischen kirchlichen und öffentlichen Heimen. Was aber umgekehrt besagt, dass die kirchlichen Einrichtungen weit hinter ihren eigenen Ansprüchen zurückblieben.

Die Historiker verschweigen auch nicht, dass die religiöse Erziehung den Alltag vieler Jugendlicher zusätzlich verdüsterte: "Nicht selten wurde eine Drohkulisse durch einen alles sehenden und strafenden Gott" aufgebaut.



Strukturelle Defizite

Verantwortlich für die Missstände waren laut Damberg und Jähnichen aber nicht nur individuelles Versagen und fehlende staatliche Kontrolle. Die Wissenschaftler attestieren den kirchlichen Heimen auch strukturelle Defizite. Die vielfach aus Orden stammende Mitarbeiterschaft war kaum ausgebildet und überaltert. Schon damals litten die Orden unter Nachwuchsmangel. "Weltliche" Kräfte gab es wegen schlechter Entlohnung und schlechten Arbeitsbedingungen in den Einrichtungen kaum.



Im Herbst soll der Abschlussbericht des Forschungsprojekts als Buch veröffentlicht werden. Er könnte ein Baustein dafür sein, dass die Gesellschaft das Leid vieler Heimkinder anerkennt und sie rehabilitiert. Dazu beitragen soll auch der Ende 2010 vorgelegte Abschlussbericht des Runden Tisches Heimkinder: Darin plädiert das vom Bundestag eingesetzte Gremium für einen Fonds von 120 Millionen Euro, aus dem Heimkinder etwa Rentenausgleichszahlungen sowie Hilfen zur Traumabewältigung erhalten sollen. Bund, Länder und Kirchen sollen je ein Drittel der Kosten zahlen. Die Kirchen hatten als erste ihre Bereitschaft zu Zahlungen erklärt. Sie appellierten am Dienstag an Bund und Länder, endlich nachzuziehen, damit die versprochenen Hilfen die Heimkinder schnell erreichen.