DOMRADIO.DE: Auf dem Höhepunkt der Flüchtlingsbewegung 2015 haben Sie zunächst in einer Neusser Flüchtlingsunterkunft Deutschkurse angeboten, später geflüchtete Menschen in Ausbildung gebracht und sich beim Jobpaten-Projekt der Caritas engagiert – mit großem Erfolg. Wie wirkt auf Sie die aktuelle Debatte um deutliche Kontrollverschärfungen an den deutschen Grenzen und drohende Einreiseverbote?
Ines Kolender (Ehrenamtliche Mitarbeiterin bei der "Aktion Neue Nachbarn"): Für mich ist unvorstellbar, dass man in unserem Land Menschen, die eine Fluchtgeschichte hinter sich haben und zum Teil tiefe Verletzungen mit sich herumtragen, mit einem Mal nicht mehr haben will. Als ich mit Renas Sido, einem syrischen Flüchtling, den ich seit seiner Ankunft in Neuss 2015 betreue, das Buch "Wo sind meine Olivenbäume?" geschrieben habe, konnte ich bei dieser gemeinsamen Arbeit tiefe Einblicke in seine Seele gewinnen und in das, was ein einzelner Mensch aushalten muss, der seine Familie und Heimat verlassen hat – und das ja nicht freiwillig. Bei allem Erschütterndem hat er mir auch davon erzählt, wie die Menschen ihn damals in Deutschland mit Willkommensschildern empfangen haben, wovon heute ja im Ansatz keine Rede mehr sein kann, weil die Stimmung inzwischen leider in eine ganz andere Richtung umgeschwenkt ist. Und da kann ich absolut nicht nachvollziehen, dass man Menschen, die so viel Leid und Not erlebt und sich unter Lebensgefahr aufgemacht haben, demnächst an den Grenzen abweisen will.
DOMRADIO.DE: Konkret: Wie stehen Sie zu den jüngst diskutierten Vorschlägen von Friedrich Merz?
Kolender: Ich bin entsetzt, wie man überhaupt auf eine solche Idee kommen kann. Auch die Abstimmung im Bundestag mithilfe der Stimmen der AfD halte ich nach wie vor für einen unglaublichen Vorgang, wie man ihn noch vor einiger Zeit nicht für möglich gehalten hätte. Selbst beim Fernsehduell am vergangenen Sonntag zwischen Scholz und Merz war mir die Absage an ein Zusammengehen in dieser Frage mit der AfD seitens Merz nicht eindeutig genug. Er lehnt weitere Geflüchtete kategorisch ab, während Olaf Scholz da nochmals eher differenziert, wer abgewiesen werden soll und wer ein Recht auf Aufnahme hat.
Grundsätzlich ist natürlich die Gesamtstimmung im Land zum Thema Einwanderung und Migration merklich gekippt. Das wird daran ja deutlich. Zum Glück sind aber nach Merz Vorstoß viele Menschen – vermutlich eben auch die, die Geflüchteten positiv gegenüber eingestellt sind – auf die Straße gegangen, um gegen seine Pläne zu protestieren. Wenn man aber dann wiederum sieht, dass dieser Mann keinerlei Imageschaden davon getragen hat – eher im Gegenteil, noch Prozentpunkte hinzugewonnen hat – schäme ich mich für unser Land und bewerte die politische Haltung, die hinter solchen Vorhaben steckt, schlichtweg als Katastrophe.
DOMRADIO.DE: 2015 hatten wir eine Bundeskanzlerin, die angesichts des großen Flüchtlingselends gesagt hat: Wir schaffen das! Heute übertrumpfen sich diejenigen, die am 23. Februar die Bundestagswahlen gewinnen wollen, bei dem Thema Migration mit immer härteren Maßnahmen zur Bekämpfung der Geflüchtetenströme. Wie beurteilen Sie aus der Perspektive einer Helferin diese Kehrtwende?
Kolender: Diese 180 Grad-Wende ist für mich schwer nachzuvollziehen. Als ich damals über einen Aufruf der Caritas mit der Geflüchtetenarbeit begonnen habe, gab es sehr viele Menschen – überwiegend Frauen – die sich ebenfalls engagieren wollten. Schon ein paar Jahre später aber hat sich das gewandelt, und zuletzt waren nur noch wenige dabei. Zunächst gab es eine große Motivation, aber dann haben die Helfer eben auch Rückschläge erlebt, weil es mit den Geflüchteten doch nicht so einfach war, nicht alle integrationswillig waren und sich immer wieder auch Schwierigkeiten auftaten. Bestimmt haben sich auch deshalb einige frustriert zurückgezogen, weil sie gemerkt haben, dass sie mit ihrem Einsatz nichts erreichen. Ich hatte solche Frustrationserlebnisse nicht, weil ich überwiegend mit Flüchtlingen Kontakt hatte, die selber weiterkommen und in unserer Gesellschaft auch ankommen wollten, sich daher nicht auf einem bequemen Sofa ausgeruht und primär ihren Vorteil gesucht haben. Aber zur ganzen Wahrheit gehört natürlich, dass es auch die gab.
Vielmehr bin ich sehr viel Dankbarkeit begegnet, weil ich mich um Wohnungen, Kleidung, Geschirr und vieles mehr gekümmert habe. Ich weiß nicht, wie oft ich Einladungen zum Essen ausschlagen musste, weil ich die Zeit dazu einfach nicht hatte. Insofern bedaure ich sehr, dass nun die sicher furchtbaren Negativbeispiele die vielen positiven überlagern und sie für einen derart gravierenden Stimmungswechsel in der Bevölkerung gesorgt haben.

DOMRADIO.DE: In der Vergangenheit bildeten die Syrer und Afghanen die größte Gruppe der Asylantragsteller mit einer Anerkennungsquote von 87 Prozent. Sie haben in den letzten zehn Jahren viele Syrer mit Integrationsangeboten begleitet. Welche Erfahrungen haben Sie gemacht?
Kolender: Fast nur gute. Ich konnte einige junge Syrerinnen und Syrer in eine Ausbildung bringen – andere Ehrenamtler auch – so dass es doch auch viele Geflüchtete geschafft haben, hier anzukommen. Zunächst durften sie ja nicht arbeiten, aber wenn sie dann eine Arbeitserlaubnis hatten, wollten sie auch in einen Beruf, so dass sie heute Teil unseres Arbeitsmarktes und auch unserer Gesellschaft sind. Neulich hat ein junger Syrer im Radio gesagt: Jeder redet von uns als fehlenden Arbeitskräften, wenn die Grenzen dicht gemacht werden. Aber wer spricht denn von den vielen Freunden, die gehen müssten, wenn man diese Menschen aus nicht nachvollziehbaren Gründen abschiebt? Schließlich haben wir alle ja – die Helfer wie die Geflüchteten – viele neue Kontakte geknüpft und sogar Freundschaften geschlossen. Es geht also auch um emotionale Bindungen. Beziehungen wie die zu Renas haben mich persönlich jedenfalls ungemein bereichert; ich will sie nicht mehr missen.
Als er mir von seinen Erlebnissen während der Flucht durch mehrere Länder Europas berichtet hat, konnte ich gar nicht glauben, was er alles durchmachen und aushalten musste. Nicht nur dass er verstörendste Bilder einer bestialischen Brutalität gesehen hat, als Flüchtling wurde er zumeist auch als Mensch zweiter Klasse betrachtet. Er war allein unterwegs, niemand hat ihn geschützt. Und dann sein Weg über die Balkanroute, um vor dem Albtraum in Syrien und den Gräueltaten dort zu fliehen. Das alles sind unvorstellbare Erlebnisse, zumal wir alle ja nicht im Mindesten nachempfinden können, was es heißt, die eigene Familie und Heimat zu verlassen, weil man keinen anderen Ausweg mehr sieht. In einem Boot das Mittelmeer überqueren – das macht doch niemand, um in Deutschland als Schmarotzer Sozialhilfe zu kassieren.
DOMRADIO.DE: Olaf Scholz und Friedrich Merz sind sich uneins bei der Frage, ob die vom CDU-Parteichef geplanten Zurückweisungen an der Grenze rechtlich abgedeckt sind oder europäischem Recht widersprechen. Aber einmal ganz unabhängig davon – bleibt unsere Humanität, aus der heraus vor zehn Jahren zigtausende Menschen in den Gemeinden, Dörfern und Städten bereit waren, das Flüchtlingselend aufzufangen und geflüchteten Menschen eine neue Heimat zu geben, nicht bei dieser heftig geführten Debatte auf der Strecke?
Kolender: Natürlich muss in unserer Gesellschaft immer noch die Menschlichkeit an erster Stelle stehen und nicht der Gedanke, es könnte einer unter 10.000 Geflüchteten ein potenzieller Straftäter sein, auch wenn selbstverständlich jedes grauenhafte Verbrechen eines zu viel ist.

DOMRADIO.DE: Bei der Argumentation für deutlich weniger Migration werden aber ja gerade immer diese Einzelfälle an Negativbeispiele von straffällig gewordenen Einzeltätern ins Feld geführt. Darüber, dass Kriminelle – Stichwort Solingen, Magdeburg, Aschaffenburg – schnellstmöglich abgeschoben werden müssen, herrscht auch Einigkeit. Doch werden bei diesen mitunter populistisch geführten Diskussionen nicht zu Unrecht auch viele Geflüchtete in Mitleidenschaft gezogen, die aufgrund von Verfolgung, Armut oder kriegerischen Auseinandersetzungen in der Heimat einen Anspruch auf Asyl haben?
Kolender: Das ist ja genau das Problem, dass man, wenn es soweit kommt, dann alle – unabhängig von ihrem jeweiligen Schicksal und ihren Fluchtgründen – über einen Kamm schert. Bis heute erlebt selbst Renas, der arbeitet, total integriert ist und fließend Deutsch spricht, Alltagsdiskriminierung. Wenn ein Verbrechen von einem Syrer verübt wird, spricht man ihn sofort darauf an, als werde er in Sippenhaft genommen. Das erlebt er immer wieder, und das macht ihm sehr zu schaffen. Seine Beobachtung ist, dass man sich auf ausländische Straftäter geradezu einschießt und alle Negativbeispiele sofort an die ganz große Glocke gehangen werden, während über die Verbrechen deutscher Straftäter kaum gesprochen wird.
Dabei brauchte es einen viel differenzierteren Blick auf die Statistik, damit es in der öffentlichen Wahrnehmung nicht immer nur die Syrer oder Afghanen sind, die schuldig werden. Natürlich müssen Straftäter abgeschoben werden – da bin ich ganz dabei, wenn sich jemand hier nicht an geltendes Recht hält – aber es muss mit demselben Maß gemessen werden. Niemand sollte wegen seiner Herkunft diskriminiert werden.
DOMRADIO.DE: Wenn wir gemeinsam die Ärmel hochkrempeln und Solidarität zeigen, können wir als Land viel erreichen. Auch das haben wir 2015 erlebt. Was würden Sie sich für diese gerade innenpolitisch aufgeheizte Situation beim Thema Migration wünschen?
Kolender: Dass wir immer den Menschen und seine Not in den Vordergrund stellen – wie es die „Aktion Neue Nachbarn“ tut. Selbst bei jemandem, der andere tötet, muss man schauen, was ihn dazu gebracht hat, woher unter Umständen psychische Probleme oder Traumata kommen, die möglicherweise mit der eigenen Flucht zusammenhängen und ihn zu einer solchen schrecklichen Tat verleitet haben. Immer muss es uns um den Menschen gehen. Im letzten Jahr hat Renas den Integrationspreis des Rhein-Kreises Neuss bekommen und betont: „Wir sind alle Menschen“. Das ist ein ganz wichtiger Satz. Und wenn wir alle wie Menschen handeln würden, dann hätten wir diese Diskussion auch gar nicht.
Gerade bei der „Aktion Neue Nachbarn“ geht es um christliche Menschenliebe – unabhängig davon, welcher Religion jemand angehört. Ich bin davon überzeugt, wenn alle an einem Strang ziehen und uns die Menschlichkeit leiten würde, könnte uns das weit nach vorne bringen und wir müssten nicht über bestmögliche Maßnahmen nachdenken, wie wir Menschen auf der Flucht an unseren Grenzen ihrem Schicksal überlassen.
Das Interview führte Beatrice Tomasetti.